KAPITEL
04 Jonny Insitu DISTRUKTUR Eternau Film Still 1

„Kennst du eigentlich schon Jonny?“

Wir schauen hinter die Kulissen von insitu — ein Non-Profit-Raum für zeitgenössische Kunst in Berlin. Am Beispiel „Jonny“ (zweite von vier Gruppenausstellungen von Zyklus III) schildert das internationale Kuratorenkollektiv seine Arbeit von der Idee bis zur Realisierung der Projekte. Am 2. April startet übrigens „Charles“.

JONNY

I know a girl called Jonny

She’s an impossibility

I’m an Alchemist in my astronaut’s Dress‘

Changing all the girls into Boys

(Rowland S. Howard)

Wenn wir eine neue Person kennenlernen, neigen wir dazu, Millionen von Dingen gleichzeitig zu registrieren. Intuitiv beurteilen wir ihr Verhalten, ihre Art zu sprechen, sich zu kleiden oder zu bewegen. Manche Beurteilungen mögen stimmen, andere schlicht auf Vorurteilen beruhen – wie auch immer die Wahrheit aussieht: die Begegnung mit einer Person beansprucht alle unsere Sinne, Gefühle und Fähigkeiten der Kommunikation.
Was passiert, wenn wir eine Ausstellung entwickeln, die die Situation nachempfindet, eine Person zum ersten Mal zu treffen? Diese Ausstellung würde nicht nur eine Präsentation einzelner Kunstwerke sein, sondern auch die Schwächen, Stärken und Wünsche einer Person widerspiegeln. Als insitu haben wir uns vorgenommen, innerhalb von vier Ausstellungen genau dies anhand fiktiver Charaktere zu versuchen. So entstand Jonny.
Für Zyklus III hatten wir festgehalten, dass immer abwechselnd jeweils eine/r von uns vier der/die IdeengeberIn zur kommenden Ausstellung ist – dieses Mal war insitu-Teammitglied Lauren an der Reihe. Der Name Jonny basiert auf einem Lied von Rowland S. Howard‚ (I Know) A Girl Called Jonny und war Ausgangspunkt für die Entwicklung unserer aktuellen Person. Für Lauren ist das Lied sowohl mit Nostalgie als auch Heimweh verbunden. Als Australierin kannte sie diesen Song als Einzige von uns. Jung an Krebs gestorben beschreibt der Post-Punk Musiker Rowland S. Howard in dem Song seine gute Freundin und Musikerin Jonnine Standish. „She is an impossiblity (…) Changing all the girls into boys“ – der Rest des insitu-Teams war fasziniert. Sie schien wie die Fantasie einer Frau, die wir lieben würden, mit der wir Nächte lang rauchen und schweigen oder wild feiern wollen würden.
Jonny klingt cool und lässig und prägt sich leicht ins Gedächtnis ein. Jonny ist eine starke Frau. Doch wie kuratiert man eine Ausstellung bei der man anfangs kein festes Thema, keine gesetzten KünstlerInnen, sondern nur eine Stimmung, einen Songtext und Musik hat?
Wir entwickelten in der fast viermonatigen Entstehungszeit von Jonny nur das Charakterbild. Ausgehend von dem Songtext stellten wir uns Jonny von einem anderen Stern vor, als utopische Vision einer späten sechziger Jahre Fantasie. Jonny ist für uns unabhängig, selbstsicher und ziemlich direkt. Brigitte Bardot in Und immer lockt das Weib (Et Dieu…créa la femme) das ist Jonny. Marlon Brando in Der Wilde auch das ist Jonny.

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Eine insitu Ausstellung ist Teamwork. So begann die KünstlerInnenrecherche über die Sommermonate. Zuerst jeder für sich, dann alle gemeinsam und immer wieder wurde der Charakter weiter ausgebaut. Jonny wurde mehr und mehr zu einem rätselhaften einsamen Wolf. Sie bricht keine Regeln, da sie erst gar nicht an Regeln glaubt. Binäre Geschlechterordnung interessiert sie nicht, gesellschaftliche Normen oder Hierarchien schon gar nicht. Nach und nach kam eine KünstlerInnenliste zusammen, die Jonnys Entwicklung oder Reifeprozess vom jungen Mädchen bis hin zur erwachsenen, selbstbestimmenden Frau zeigt.

Für die Umsetzung von Jonny im Ausstellungsraum, war es wichtig, die Situation einer intimen Begegnung zu erzeugen, ganz so, als ob man in ihre ganz private Welt und Psyche eintauchen würde. Ausgehend von der Strophe „I’m an alchemist in my astronaut’s dress“, sollte die Szenographie der Ausstellung einer abstrakten Planetenlandschaft ähneln, in der Bildschirme wie Sterne Einblicke in Jonnys Persönlichkeit bieten.
Ein kleiner Raum voller Videoarbeiten kann dabei den routinierten Blick auf die einzelnen Arbeiten neu justieren und einen persönlichen Bezug zum Publikum aufbauen. Es sollte also die erste reine Videoausstellung werden, die wir bisher hatten. Einzige Ausnahme bildet der Song „(I Know) A Girl Called Jonny“, den BesucherInnen wie einen Soundtrack der Ausstellung im zweiten Raum in Ruhe hören und als abgedruckten Songtext lesen können. Er verbindet schließlich alle Werke miteinander.

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Die finale Werkauswahl besteht aus Arbeiten von 1924 bis heute. Neben Filmen wichtiger, feministischer Künstlerinnen wie Sylvie Fleury, Valie Export oder Nancy Buchanan zeigen wir auch Arbeiten junger KünstlerInnen wie Elisa Pône oder Ivan Argote. In Ivan Argotes Werk Geometría (2012) stellen sich 2 junge Frauen im Dschungel-Dauerregen drei existentielle Fragen: „Wo bin ich geboren?“, „Wo bin ich aufgewachsen?“ und „Wohin will ich gehen?“ Die Antworten werden nicht nur artikuliert, sondern durch einen Schuss aus einer Waffe, die für jede Antwort neu geladen wird, begleitet. Der Schuss wird ins Nichts des Dschungels gefeuert und untermalt Jonnys „Ist-mir-egal-Attitüde“ und zeigt eine Art unschuldige Gewalttätigkeit gegenüber ihrer emotionalen Bindungen und ihrer Vergangenheit als Teenager.

Supernature (2014) der Künstlerin Lotte Meret Effinger inszeniert dagegen Figuren und Objekte als übernatürliche Bilder und eröffnet den BetrachterInnen vielfache Assoziationsräume: Schminkutensilien werden zu Opfergaben, Hexenmasken erwachen zum Leben; eine Bodybuilderin posiert vor pinkem Hintergrund als Schönheitskönigin und ein junges Mädchen zerdrückt unschuldig Kuchen-Augen.
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Nancy Buchanan erforscht seit den 70er Jahren in ihren Performances und Videos die weibliche Position in der Gesellschaft und zählt mit ihrem starken Engagement in der Frauenbewegung zu einer Schlüsselfigur der feministischen Kunstszene in Los Angeles. In der Arbeit These Creatures (1979) untersucht ein männlicher Erzähler die weibliche Spezies als bizarres und unbekanntes Wesen und imitiert dabei den Stil einer Naturfilm-Dokumentation. Das Video kommentiert auf ironische Weise die Klischees unserer Gesellschaft gegenüber Frauen. Dabei mischen sich in der Ausstellung gezielt künstlerische Arbeiten mit nicht-künstlerischen Arbeiten, also Film-Trailern, Fundstücken aus dem Internet oder Zusammenschnitten aus Videoclips, die uns bei der Recherche inspirierten.

 

TEXT insitu FOTO Aufmacher: DISTRUKTUR Eternau (Film, still), Bild 1 &2: „Daisies“, 1966, Bild 3: Nancy Buchana, „These Creatures“ (Film, still), Bild 4&5: Lotte Meret Effinger, „Supernature“, 2014 (Courtesy die Künstlerin),

INSITU ist ein Non-Profit-Raum für zeitgenössische Kunst in Berlin. Gegründet Ende 2012 präsentiert das KURATORENKOLLEKTIV bestehend aus MARIE GRAFTIEAUX, NORA MAYR, GILLES NEIENS und LAUREN REID innerhalb jährlicher Themen-Zyklen Ausstellungen, Vorträge und Performances internationaler und in Berlin lebender KünstlerInnen in einem Zwei-Zimmer-Souterrain. insitu ist 2015 einer der Preisträger der Auszeichnung Berliner Projekträume und -initiativen der Berliner Senatskanzlei. Zyklus III besteht aus insgesamt vier Gruppen-Ausstellungen, die als fiktive Charaktere konzipiert sind. Die Charaktere sind entweder an ein spezifisches psychologisches Profil, eine bestimmte Eigenschaft, oder eine FIGUR aus Literatur, Film oder Musik angelehnt. Nach Vic (Laufzeit: 10/07 — 02/10/15), JONNY (Laufzeit: 23/10 — 19/12/15) und MADELEINE (Laufzeit: 23/03 — 05/03/2016) erhält nun mit Charles (Laufzeit 02/04 — 07/05/2016) die vierte fiktive Figur im insitu Einzug.