KAPITEL
Khayyer

„Unsere Gesellschaft braucht mehr Freigeist.“

JINA KHAYYER, eine erfolgreiche Journalistin iranischer Herkunft. Lesbisch und Single – und trotzdem mochte sie Mutter werden. Eine schillernde Persönlichkeit, die in der Welt zuhause und gleichzeitig auf der Suche nach Heimat ist. Jetzt, in der Mitte ihres Lebens, hat Jina Khayyer ein Buch veröffentlicht. „Alter als Jesus“ ist ein Generationenportrat, das sich mit den universellen Fragen des Seins auseinandersetzt. Es geht um Liebe, um Leben und um Überleben. Ein Roman, der nach Antworten sucht, die man letztlich nur in sich selber finden kann.

DOROTHEE VON WINNING: In deinem Buch „Älter als Jesus“ geht es um die Suche nach der eigenen Identität. Wer ist Jina Khayyer heute?

JINA KHAYYER: Ich denke, das Tolle am Leben ist ja, dass man sich permanent weiterentwickelt. Es gibt keinen Stillstand. In meinen 20ern hatte ich einen eher hedonistischen Fokus: Schnelle Autos, teure Kleidung, wilde Nächte. Das hat sich total gewandelt. Heute bin ich feministischer, philosophischer und spiritueller. In meiner Arbeit beschäftigen mich aktuell Fragen nach Weiblichkeit und Männlichkeit und das Thema Gender. Als ich jünger war, habe ich mich auch nicht besonders mit meiner eignen Homosexualität auseinandergesetzt – ich sah auch nicht so die Notwendigkeit dafür. Mir ist jedoch klar geworden, dass ich auch öffentlich dazu stehen möchte, dass ich Frauen liebe. Mir war es wichtig, Themen wie beispielsweise den Kinderwunsch einzubringen und damit zu Diskussionen anzuregen.

DvW: Allein, lesbisch, ein Kind – ein Statement aus deinem Buch, das heute definitiv noch provoziert. Erzähle mal von deinen Erfahrungen?

JK: Ich war schon etwas überrascht und auch enttäuscht, wie viele Leute aus meinem Bekanntenkreis bei diesem Thema wenig tolerant sind. Es begegnen einem viele Menschen – auch in unserer Generation –, die es absurd finden, dass man sich den Samen selber aussuchen will und gezielt nach dem passenden Spender sucht. In den meisten Ländern, wie auch in Deutschland, ist es sogar unmöglich für Homosexuelle oder alleinstehende Frauen, Sperma zu bekommen. Wenn etwas illegal ist, färbt dies auch immer auf die Gesellschaft ab und die Toleranz hält sich in Grenzen.

DvW: Du wünscht dir also mehr Offenheit für neue Lebensentwürfe und Familienkonstellationen?

JK: Wir sind eine gut ausgebildete Generation, die sich oft erst spät über Kinder Gedanken macht. Ich finde, dass man auch als Single, der mit Mitte oder Ende 30 ein Kind haben möchte, Akzeptanz erwarten kann, auch wenn man neue Wege einschlägt. Und das meine ich völlig losgelöst von der Sexualität. Unsere Gesellschaft muss insgesamt freigeistiger werden und andere Lebensentwürfe als gleichwertig annehmen. Die Frage, die mich interessiert und antreibt ist, wohin wir uns als Gesellschaft entwickeln und was neue Lebensmodelle für sie bedeuten.

DvW: Was waren denn die prägendsten Phasen deines Lebens?

JK: Mein Coming-Out als Teenager. Das berufliche Scheitern, das auch ein großes Thema in meinem Buch ist. Überhaupt, das Schreiben des Buches war sicher auch eine Reise zu mir selbst, eine Neu Entdeckung des Lebens. Was ist Sinn, was ist Sein. Ich würde die gesamte Zeit in der Villa Lena, wo ich mein Buch geschrieben habe, als prägende Phase bezeichnen, die mir klar gemacht hat, wohin es für mich in den nächsten zehn Jahren geht.

DvW: Um Selbstreflexion geht es auch bei dem Khayyer Questionnaire. Eine Art Wahrheit oder Pflicht für Erwachsene. Was genau steckt hinter deinem Kartenspiel, das es in deinen vier Sprachen Deutsch, Englisch, Französisch, Farsi gibt?

JK: Es ist eine Art Flaschendrehen für Erwachsene. Ausgehend vom Small-Talk soll es die Spieler zum Dialog inspirieren. Wir stellen banal klingende und doch universelle Fragen wie beispielsweise. „Wer bist du?“ oder „Was bedeutet Glück für dich?“ oder „Was ist das Gegenteil von dir“. Sie sollen zum Nachdenken und zum Reflektieren anregen, weil es keine universellen Antworten auf solche Fragen geben kann.

Jina Khayyer_Spiel

DvW: Kleines Gedankenspiel zu den wichtigsten Themen in deinem Buch – was fällt dir zu folgenden Stichworten ein:

Heimat

Ich denke Heimat finde ich schlussendlich in mir selbst. Sie ist da, wo ich bin. In meiner Wohnung in Paris habe ich einen Ort gefunden, wo ich mich absolut zuhause fühle. Menschen, die mir etwas bedeuten, geben mir das Gefühl von Heimat. Und auch meine Sprache ist meine Heimat, weil ich durch sie alle meine Gefühle und meine Gedanke zum Ausdruck bringen kann.

Scheitern

Zu scheitern ist notwendig und unglaublich schmerzhaft. Ich denke, man lernt aus dem Scheitern viel mehr als aus dem Gewinnen. Und wenn man es schafft, die negative Energie und den Schmerz des Scheiterns umzudrehen, dann setzt das eine unglaubliche Kraft frei.

Wünsche

Das Wünschen ist wichtig und wird unterschätzt. Ich schreibe mir immer Wunschlisten. Dabei geht es nicht um Besitz oder Konsum, sondern darum, sich Gedanken zu machen, was man wirklich möchte. Ich glaube, man kann viel mehr erreichen als man denkt. Aber dafür ist es wichtig und notwendig, dass man sich vorher intensive Gedanken über seine Wünsche gemacht hat.

Liebe

Während Wünsche unterschätzt werden, wird Liebe als Begriff überschätzt. Er ist zu einer totalen Projektionsfläche geworden. Aber tatsächlich geht es um die kleinen Verliebtheitsmomente und eine Freude am Gegenüber, an einem Geruch, einem Geschmack, einem Gespräch. Die Kunst ist es, den anderen so zu nehmen wie er ist und nicht zu versuchen, ihn zu verändern. Ich glaube nicht an absolute Monogamie, aber das muss jeder für sich selbst beantworten. Ich bin in einer Beziehung exklusiv, das bedeutet aber nicht, dass das für immer halten muss.

Familie

Der Begriff Familie hat sich verändert und ist weiter geworden. Alleine zu sein geht auf Dauer nicht. Man kann sich heute seine Familie selbst aussuchen. So sind Freunde in unserer Generation längst zu einem festen Bestandteil der Familie geworden. Wir leben sozusagen in erweiterten Familien. Und das ist gut so.

Freiheit

Frei zu sein ist das universellste Menschenrecht. Ich möchte in einem Land leben, in dem ich frei bin in meinem Denken und Handeln. Ich glaube, Menschen kommen zu uns, weil wir sehr nahe dran sind, an dem was Freiheit bedeutet. Ich möchte in einer Gesellschaft leben, die wirkliche Freiheit zulässt – dazu gehört auch, dass eine alleinstehende homosexuelle Frau genauso wenig dafür verurteilt wird, dass sie ein Kind möchte, wie eine alleinstehende heterosexuelle Frau oder auch ein alleinstehender Mann. Ich wünsche mir eine Gesellschaft, die wirklich frei und tolerant ist und es nicht nur behauptet.

INTERVIEW Dorothee von Winning FOTO Jonas Lindstroem

 

Jina Khayyer „Alter als Jesus oder mein Leben als Frau

Orell Fussli Verlage, €18,95

SOUVENIR“ by Jina Khayyer, Truth or Dare, The Khayyer Questionnaire

Mehrsprachiges Kartenspiel (Deutsch, Englisch, Franzosisch und Farsi)

Endless Edition, 24 Euro