KAPITEL
Online

Lieber poly? Ein Interview mit Naomi Fearn

Monogamie wird in unserer Gesellschaft immer noch idealisiert. Ein Ideal, dass nicht jede*r erfüllen kann und will. Zwischenmenschliche Anziehungskräfte lauern überall. Auch dann, wenn sie es eigentlich nicht sollten. Für Personen, die polyamor leben, sind Versuchungen allerdings erlaubt.

Eine, die überzeugt vom polyamoren Beziehungsmodell ist, ist Naomi Fearn. Die Berliner Comiczeichnerin, die zugleich Teil der Zweier-Combo „Sticky Biscuits“ ist, macht aus ihrem Lebensstil keinen Hehl. Sie glaubt nicht an die eine perfekte Person oder an „bis dass der Tod euch scheidet“, dafür aber an Ehrlichkeit und offene Gespräche. Das Thema Polyamorie schafft es auch in ihre Musikvideos, die sich gern um (bi-)sexuelle und queere Themen drehen, und mit denen sie und ihr Mann Marc schon so manchen Preis auf Indie-Festivals abgeräumt haben.  

Mae Becker: Wie kamst du auf das Konzept, polyamor zu sein?

Naomi Fearn: Um ehrlich zu sein, fiel es mir in monogamen Beziehungen immer schwer, treu zu sein. Irgendwann dachte ich mir, es muss noch etwas anderes geben. Den Menschen, mit denen ich zusammen war, habe ich immer vorgeschlagen, die Beziehungen zu öffnen. Das kam allerdings nicht so gut an. Angefangen hat dann alles mit einer Fernbeziehung mit einem Schweden. Wir sahen uns selten und es lag nahe, die Beziehung zu öffnen. Und kurz darauf hatte er tatsächlich noch eine schwedische Freundin.

MB: Wie war es dann für dich? Nun warst du ja nicht mehr nur theoretisch, sondern ganz real in einer Beziehung zu dritt. 

NF: Eine Sorge war für mich, die andere Person, nicht zu kennen. Eines Tages haben wir geskypt und sie war da. So haben Sarah und ich uns kennen gelernt und waren uns gleich sympathisch. Da habe ich auch gemerkt, dass ich auch tatsächlich ‚poly‘ bin und nicht nur in meiner Vorstellung. Später hatte er dann eine andere Frau, die war letztendlich aber monogam und hatte keine Lust auf ein polyamores Netzwerk. Er durfte nichts von mir erzählen und mich auch nicht anrufen, wenn sie in der Nähe war. So ist dieser erste Versuch dann auch geendet. Aber ich wusste, dass ich es nicht mehr anders haben wollte.

MB: Wie gestaltet sich deine Beziehung heute?

NF: Ich bin mit Marc verheiratet und habe noch einen weiteren Freund, Omar. Beide Männer haben jeweils noch eine Freundin. Aufgemalt formen wir sozusagen ein ‚M‘, mit mir in der Mitte. Wir kennen uns alle gegenseitig und verbringen auch unsere Freizeit miteinander. Natürlich nicht immer alle zu fünft, aber schon häufiger in kleinen Grüppchen.

MB: Du bist bisexuell. Da läge es doch eigentlich nahe, eine Parallelbeziehung mit einer Frau zu führen.

NF: (lacht) Das stimmt, hat sich aber in unserer jetzigen Konstellation einfach nicht ergeben. Ich hatte auch schon eine offene Beziehung mit einer Frau, war also auch schon einmal Teil eines Polynetzwerks mit Frauen. Aber daraus hat sich schlussendlich nichts Langfristiges entwickelt.

MB: Was macht für dich Polyamorie aus? Wieso findest du, dass der Lebensstil so gut zu dir passt?

NF: Viele Menschen sind auf der Suche nach „the one“, dieser einen perfekten Person, die alle tollen Eigenschaften in sich vereint. Der Partner oder die Partnerin soll die große Liebe, die beste Freundin, die beste Liebhaberin, ein guter Vater usw. in einem sein. Und dann am besten noch für immer. Aber unsere heutige Beziehungsrealität sieht ganz anders aus. Die meisten von uns führen in ihren Leben mehrere Beziehungen, lieben mehrere Menschen und nicht jede Beziehung währt ewig. Und das muss sie auch gar nicht. Beziehungen müssen auch nicht immer die gleiche Form behalten, um als „erfolgreich“ zu gelten. Sie sind wandelbar. Für mich ist Polyamorie eine realistische Herangehensweise an diese Beziehungsrealität. Ich glaube, dass man sich als Polyamore mehr Gedanken darüber macht und diese Realität eher akzeptiert als andere.

Außerdem mag ich das soziale Gefüge, das Großfamilien-Feeling. Da ist einfach eine Gruppe von Menschen, die füreinander da sind, sich gegenseitig unterstützen, Verantwortung füreinander übernehmen wollen. Das finde ich schön.

MB: Was, würdest du sagen, kann man von der Polyamorie abschauen?

NF: Mich persönlich hat die Polyamorie gelehrt, meine eigenen Bedürfnisse zu analysieren und zu erkennen: Was brauche ich von meinem Partner bzw. meiner Partnerin und was nicht? Brauche ich wirklich die Sicherheit, dass wir nur uns gegenseitig intim bzw. emotional nahestehen, auch wenn wir gar nicht beisammen sind? Oder brauche ich die Zugewandtheit und Nähe vielleicht nur, wenn wir zu zweit sind? Ich habe in meinen polyamoren Beziehungen in der Tat gelernt, meine eigenen Bedürfnisse besser zu verbalisieren.

MB: Was sind denn die Voraussetzungen dafür, dass man sich mit mehr als einem Partner bzw. einer Partnerin einlassen kann? Ich frage mich, ob die beste Grundlage Sicherheit ist – im Sinne einer absolut festen Beziehung, in der man sich einander so sicher ist, dass einen nichts trennen kann – oder aber, ob es das genaue Gegenteil ist: Nämlich Unsicherheit – in dem Sinne, dass man sich etwas holen möchte, was in der Beziehung fehlt.

NF: Ich würde nicht sagen, dass das eine Oder-Frage ist. Es ist von beidem etwas. Das Schwierigste ist es aber, eine monogame Beziehung zu öffnen. Es ist viel leichter von Anfang an mit offenen Karten zu spielen und klar zu sagen, dass man eine offene oder polyamore Beziehung will. Dann kann der Partner oder die Partnerin sich überlegen, ob er oder sie das auch möchte, wie es ihm oder ihr damit geht. Daraus erschließt sich dann, ob man diesen Weg gemeinsam gehen kann.

MB: Wie war das, als du mit deinem Mann zusammengekommen bist?  

NF: Er hatte keine Erfahrung damit und fand das erst komisch. Ich habe ihn dann an die Hand genommen, nach dem Motto: „Solltest du eine Dame haben, die jede Woche bei dir übernachtet, dann kann die auch weiterhin bei dir übernachten.“ Marc war offen, wollte aber, dass wir in unserer Beziehung erst einmal Fuß fassen. Als er dann das erste Mal mit einer anderen Frau geschlafen hatte, war er zunächst ganz überzeugt. Aber ich habe ihm klar gesagt: „Mach mal langsam! Du weißt noch nicht, wie es dir geht, wenn ich mal auswärts übernachte.“

MB: Ist es schwierig, Liebe zu teilen? 

NF: Nein, für mich nicht. Aber Eifersucht kann schon ein Streitpunkt sein. Man muss immer offen über die eigenen Gefühle und Wünsche sprechen und wirklich ehrlich miteinander sein, damit man sich und anderen nicht weh tut. Marc und ich hatten beispielsweise in letzter Zeit ganz schöne Kämpfe auszutragen. Denn ich habe ihm gesagt, dass ich für ihn und Omar dasselbe empfinde, dass sie beide für mich den gleichen Stellenwert haben. Das hat ihn verletzt, denn Marc möchte am liebsten eine offene Beziehung mit einem hierarchischen System. Wir sollen ein Hauptpaar bilden mit weniger wichtigen Partner*innen um uns herum. Das gefällt mir aber gar nicht, weil ich Menschen weder so einstufen möchte, noch kann. Entweder mag ich jemanden oder nicht. Ansonsten behandelt man einen von beiden als wäre er minderwertig und hätte keine Rechte. Und das ist Quatsch, denn im Netzwerk muss es allen gut gehen. Und bei solchen Themen muss man ehrlich mit sich selber sein: Was geht? Was verletzt mich? Wo empfinde ich Eifersucht? Das muss man klar kommunizieren können, sonst tut man sich und anderen weh.

MB: Welche Herausforderungen birgt für dich das polyamore Beziehungskonzept?

Naomi: Das größte Problem ist es, die Zeit aufzuteilen. Will man allen gerecht werden, braucht man ein gutes Zeitmanagement. Aber ein Hoch auf Google Calender, den kann man zu fünft nutzen! (lacht) Wir machen tatsächlich am Anfang der Woche einen Plan, wer wo übernachtet. Auch sehr wichtig ist safer sex! Man muss sich sicher sein können, dass alle, die im Netzwerk sind, aufpassen, keinen Unsinn machen, sich regelmäßig testen lassen usw. Wenn das aber alles klappt, dann ist es wunderschön.

MF: Wann ist es eigentlich tatsächlich ‚amour‘, also Liebe, und wann nur Sex?

Naomi: Viele Paare fangen damit an, sich gegenseitig One-Night-Stands zu erlauben. Irgendwann kommt aber die Phase, wo man darauf keine Lust mehr hat. Immer jemand Fremdes, immer neu kennenlernen, immer von vorne. Dann möchte man die Leute öfter sehen, entwickelt romantische Gefühle. Dann wird aus offener Beziehung häufig Polyamorie.

MB: Was irritiert die Menschen in deiner Umgebung daran?

NF: Die Leute denken häufig, dass das nur eine Übergangsphase ist und ich mich irgendwann schon noch für eine Person entscheiden werde, mit der ich dann alt werde. Sie verstehen die Polyamorie als Trend, den ich mitmache. Ich bezweifle das. Aber wer weiß, frage mich in 10 Jahren nochmal. Vielleicht behalten sie ja Recht! (lacht)

Mae: Würdest du sagen, dass polyamore Liebe sich als Beziehungskonzept weiter durchsetzen wird?

NF: Das Interessante ist ja gerade, dass das gar kein neues Konzept ist. Es ist sehr alt. Menschen hatten schon vor der Erfindung der Ehe offene Beziehungskonzepte und auch als die Ehe schon Konsens war, hatten sie Sex außerhalb dieses Bundes. Man denke nur an das Mätressenwesen. Ich denke mir: Wenn monogam zu sein das einzig Richtige wäre, dann wäre es für viele Menschen nicht so unglaublich schwer.

MB: Also glaubst du, dass Polyamorie die Monogamie ablösen wird?

NF: Ich denke, dass sich das alles auf einem Spektrum befindet. Für manche ist es das Richtige, im Leben nur eine*n Partner*in zu haben. Das macht sie glücklich. Andere sind seriell monogam. Und ich bin halt poly. Ich glaube nicht, dass ein Beziehungskonzept ein anderes ablösen wird, aber ich finde es gut, wenn es alle als Option gibt.

Text: Mae Becker Foto: Lux Revolver