Maike Mia Höhne über Revolution, #metoo und die Berlinale
Seit über zehn Jahren kuratiert Maike zusammen mit ihrem Sichtungsgremium die Kurzfilmsektion der Berlinale und schaut sich dafür jährlich tausende von Kurzfilmen an. Auch dieses Jahr kam dabei wieder eine unglaublich facettenreiche Auswahl zustande, die die Diversität unserer Welt so gut einfängt, wie es das Kino, das man sonst serviert bekommt, nie zustande bringt.
„Wenn man in Farben spricht, dann ist die diesjährige Auswahl sehr kraftvoll. Mit großem Schwarz und starkem Blau – kräftige Farben, die für kräftige Filme und kräftige Handschriften stehen“, sagt Maike. Einer der Eckpfeiler ist auf jeden Fall „Russa“. In diesem Zwanzigminüter kehrt eine Frau aus dem Gefängnis zurück in ihren Hochhauskomplex in Porto, dem der Abriss kurz bevorsteht – und ihrer Heimat droht die Auslöschung. „Wir haben da eine sehr starke Protagonistin, die für sich einsteht. Das zieht sich als Linie durch das Programm und auch durch die Sektionen hindurch. Ich glaube, das ist ein weltweiter Trend: Wir können jetzt auf niemanden mehr warten, wir müssen selbst Aktion machen. Die Menschen brauchen Selbstermächtigungsstrategien, und eine davon ist Film. Die stellen wir hier aus.“
Diese Eigenschaft des Mediums kommt auch sehr deutlich im Sonderprogramm zum 50-jährigen Jubiläum der 68er-Bewegung zum Vorschein. Unter dem Namen „Rote Fahnen für alle“ werden verschiedene Kurzfilme gezeigt, die zu dieser Zeit entstanden sind. „Die rote Flagge steht bis heute für eine andere Idee von Gesellschaft. Der Film ‚Farbtest Rote Fahne‘ hat zum Titel beigetragen. Da laufen zwölf Jungs im Staffellauf durch Berlin und reichen sich die rote Fahne immer weiter, um sie dann am Ende am Rathaus zu hissen. Ich persönlich wünsche mir mehr Mut, für seine Überzeugungen einzustehen – und dafür steht die rote Fahne. Ich wünsche mir, dass man nochmal darüber nachdenkt, worum es damals ging: die Fragen nach Gesellschaft und der Notwendigkeit, diese zu ändern“, sagt Maike. Ein anderer Film im Sonderprogramm heißt „Programmhinweise“. Darin unterbricht eine adrette junge Frau die Übertragung der Europameisterschaften im Eiskunstlaufen für „einige Hinweise zur Emanzipation der Frau“ und berichtet, dass sie manchmal nicht sicher ist, was schlimmer ist: Die Unterdrückung als Frau oder die Isolation, die man erfährt, wenn man diese nicht hinnimmt. Der Zehnminüter wirkt auf merkwürdige Weise gleichzeitig veraltet und topaktuell. Aber: Man meint, einen gewissen Spirit wieder zu erkennen, der auch heute spürbar ist. Das empfindet Maike auch so: „Es gibt da momentan irgendwas, und das hat nicht nur was mit einer Form von lautem Bashing zu tun – es ist gerade eine Chance da. Es ist ähnlich wie 1968: Da hat es zwar ‚Bumm’ gemacht, aber auch das ist nicht aus dem Nichts entstanden: Es war die Folge einer langen Entwicklung. Und so ist es jetzt auch: Vor #metoo hat es sehr viel Vorarbeit gegeben. Und es wird noch einiges kommen“.
#metoo muss grundsätzlich werden
Vor einem Jahr noch hat Maike im Interview jungen filmschaffenden Frauen dazu geraten, Banden zu bilden und unterdrückende Strukturen nicht hinzunehmen. Heute haben wir die #metoo-Bewegung. „Das Interessante an #metoo ist für mich, dass es jetzt erstmals strukturelle Probleme sind, um die es geht – jenseits der Einzelfälle. Es reicht nicht aus, Anlaufstellen einzurichten. Wir müssen generell darüber reden, wie mit Macht umgegangen und wann sie missbraucht wird.“ Wo hört Hierarchie auf und wo fängt Machtmissbrauch an? Diese Grenze wurde oft im Namen der Kunst missachtet: „Es müssen diese Bilder des Regisseurs aus der Film- und Theaterwelt verschwinden, von wegen: Nur wenn du als Schauspieler*in auf dem Boden liegst und am Ende bist, kannst du zu den Großen gehören. Das sind Bilder, die wir uns über Jahrzehnte erzählt haben, und die müssen wir neu erfinden. Reframing!“ Dass man Beklemmung auch mit scheinbar ganz simplen Mitteln filmisch erzeugen kann, zeigt zum Beispiel der französische Kurzfilm „Des jeunes filles disparaissent“, in dem es um das Verschwinden junger Frauen aus einer Kleinstadt geht. „Es gibt dort eine Szene, in der ein junges Mädchen einer Kundin im Nagelstudio die Nägel macht und die Frau sie ausfragt und einfach nicht in Ruhe lässt. Sie schaut immer nach unten und fühlt sich unglaublich unwohl: Und das ist eine der stärksten Szenen von Übergriffigkeit, die ich je gesehen habe.“
Nun hofft Maike, dass die Neuverhandlung von Macht und Hierarchie grundsätzlicher wird. „Die politische Frage muss sein, wie man das einbindet: in Schulen, in Betrieben, zusätzlich zur Quote. Wir haben eine diverse Gesellschaft, und die muss sich abbilden.“ Sie wünscht sich, dass diese Diskussion in der Filmbranche auch in andere Gebiete übergreift: „Es gibt in vielen Bereichen unglaubliche hierarchische Gefälle. Und ich glaube, so viel Hierarchie brauchen wir einfach nicht. Klar müssen Entscheidungen getroffen werden, aber das darf nicht bedeuten, dass ich tun kann, was ich will. Das muss sich verankern.“
Diversität in einer neuen Generation
Maike hat Hoffnung in einen Wandel mithilfe der Generation, die gerade in die Filmwelt eintritt – und in Narrative wie „Onde o Verão Vai (episódios da juventude)“, einem Kurzfilm aus Portugal. Der Regisseur ist 21 Jahre alt. „Im Film wird die Schöpfungsgeschichte nacherzählt, aber aktualisiert. Das Bild war schon immer da: Adam und Eva, der Apfel, die Schlange, Sündenfall, alle raus aus dem Paradies.“ Sie beißt in ihren Apfel und lacht. „Alles tausendmal gemalt, geschrieben, erzählt. Und in diesem Film sitzen sie zu mehreren im Auto, alle sind queer, und der Sündenfall bleibt aus. Und das Ganze auch noch wahnsinnig schön komponiert. Das meine ich: Da kommt was Neues.“ Diversität ist ein wichtiges Thema bei der Berlinale. „Wir können nur eine diverse Gesellschaft haben, indem wir allen Zugang ermöglichen. Dafür zu kämpfen ist anstrengend und wahnsinnig mühsam – vor allem als Frau. Deswegen brauchen wir Männer, die da mitmachen. Es geht nur gemeinsam. Und das ist in der DNA der Berlinale: Hier geht es um die zweite Reihe und darum, diesen Stimmen eine Plattform zu geben“ – und dafür zu sorgen, dass genau diese Stimmen einen feste Platz in der Filmwelt von morgen bekommen. „Beim Kurzfilm musst du jedes Bild mitdenken. Es sind kleine Gedichte. Da stimmt jede Zeile. Wer das schafft, der macht auch gute lange Filme.“ Und so ändert sich vielleicht der Kanon Stück für Stück: Und die Diversität hält immer mehr Einzug in die Filmwelt.
Text: Johanna Warda
Bild: Sarah Bernhard