KAPITEL
Hegameh 6746

Muslimisch, queer und feministisch

Frauen lieben und den Koran beten? An Allah glauben und Feministin sein? Passt das zusammen? Die Rolle der Frau im Islam scheint klar, wenn man sich in den Medien umsieht: Von Unterdrückung und Zwängen ist da meist die Rede. Unsere Autorin Katharina Pfannkuch hat mit zwei jungen muslimischen Frauen gesprochen, die einen etwas anderen Blickwinkel zeigen.

Die Geschichte liest sich wie eine moderne Liebesstory – Sie: Eine Powerfrau um die 40, Chefin eines international operierenden Handelskonzerns, eine der erfolgreichsten Unternehmerinnen ihrer Zeit, alleinerziehende Mutter, nach zwei Ehen wieder begehrte Junggesellin. Er: Ein 25-jahriger Angestellter ihrer Firma, zuständig fur die Logistik, noch ganz am Anfang seiner Karriere, ledig, unerfahren. Sie beobachtet ihn bei der Arbeit, er gefällt ihr, sie kommen einander näher. Schließlich macht sie ihm einen Antrag, er sagt ja, die beiden heiraten. Mit ihren Kindern aus den vorherigen Ehen und den neuen Geschwistern entsteht eine große Patchworkfamilie. 25 Jahre hält die Liebe zwischen dem ungleichen Paar. Dann lasst sie ihn mit 50 Jahren als Witwer zurück.

Sie, das ist Khadija bint Khuwaylid. Von Mekka bis nach Damaskus war sie im siebten Jahrhundert als knallharte Geschäftsfrau bekannt, handelte mit Möbeln und Seide. Er hat den klangvollen Namen Abu al-Qasim Muhammad ibn Abd Allah ibn Abd al-Muttalib ibn al-Hashim. Khadija verliebte sich in ihn, lange bevor die ganze Welt ihn nur unter seinem Vornamen kennen sollte: Muhammad, der Prophet des Islam, Begründer der heute mit 1,6 Milliarden Anhängern zweitgrößten Religion der Welt. Einer Religion, der oft nachgesagt wird, Frauen zu unterdrücken. Von seiner Ehe mit Khadija, einer der emanzipiertesten Frauen seiner Zeit, ist nur selten die Rede.

„Die Geschichte von Khadija stellt so ziemlich alle Klischees, die es über muslimische Gesellschaften und die Rolle der Frau im Islam gibt, auf den Kopf“, sagt Lisa Osmann begeistert. Für die 24-Jährige zeigt das Beispiel von Khadija, die als erste Muslima, aber auch als erste muslimische Feministin in die Geschichte einging, wie viel Halbwissen über den Islam herrscht – gerade, wenn es um Frauen geht: „Ich lese aus dem Koran heraus, dass Mann und Frau gleichwertig sind.“ Schon Muhammad habe gesagt, dass derjenige der beste Muslim sei, der seine Frau am besten behandle. Doch wie kommt der Islam dann zu seinem so schlechten Ruf in Sachen Frauenrechte und Gleichberechtigung?

ZWANGSEHEN? SCHWACHSINN!“

„Man muss ganz klar zwischen Religion, Gesellschaft und Tradition unterscheiden“, erklärt Lisa eindringlich: „Vieles, was Menschen für religiös halten, entstand aus gesellschaftlichen Situationen und wurde so zur Tradition. Zwangsehen sind dafür ein Beispiel“. Sie setzt sich energisch auf: „Zwangsehen sind Schwachsinn, die nichts mit der Religion zu tun haben. Gar nichts. Sie sind ein gesellschaftliches Problem, kein religiöses. Niemand wird dir eine Stelle im Koran zeigen können, die besagt, dass eine Frau oder ein Mädchen gegen ihren Willen mit einem zwanzig Jahre älteren Mann verheiratet werden darf. Das steht nirgendwo“.

Wenn es um Textsicherheit geht, macht Lisa niemand etwas vor. Immer wieder springt sie auf und holt dicke Ordner aus den Regalen in ihrem Zimmer in ihrer Berliner WG, zeigt Textstellen und belegt ihre Auffassung vom Islam – einer Religion mit Imageproblem, vor allem in feministischen Kreisen. Von oberflächlichen Meinungen aber hat sich Lisa noch nie beeindrucken lassen. Die Vorfahren ihres Vaters stammen aus der Türkei, Religion spielte in der Familie jedoch keine Rolle. Doch die vielen Türkei-Reisen seit ihrer Kindheit und die Besuche bei muslimischen Freunden, die sie manchmal in die Koranschule um die Ecke mitnahmen, machten sie neugierig. „Ich habe das alles immer wie ein Schwamm aufgesogen“, erinnert sie sich lächelnd.

Sie las den Koran, forschte in Büchern, fragte Bekannte. Einfach war es nicht, manche versuchten, ihr die Begeisterung für den Glauben auszureden. Der Rat eines Muslim habe ihr in dieser Zeit geholfen: „Wenn dir jemand sagt, etwas ginge nicht, lächle ihn an und sage ihm: Schau‘ mir nur zu, ich zeige dir, dass es geht“. Als sie mit 19 eine Reise nach Neuseeland plante, war das ein Schlüsselerlebnis: „Ich wollte vor dieser Reise das Glaubensbekenntnis aussprechen, damit ich – für den Fall, dass mir etwas passiert – als Muslima sterben würde“. Das war vor fünf Jahren.

ALS MUSLIMISCHE POLIZISTIN AUF AUGENHÖHE

Wie Khadija, die taffe arabische Geschäftsfrau aus dem siebten Jahrhundert, entspricht auch Lisa so gar nicht dem Bild der „typischen“ Muslima, das viele Medien immer wieder reproduzieren. Lisa studiert an der Polizei-Fachhochschule des Landes Oranienburg, geht in Potsdam auf Streife: „Nächstes Jahr werde ich Polizeikommissarin, inshallah“. Kopftuch trägt sie nicht, auch wenn sie eine Weile darüber nachdachte. Schon aufgrund der Arbeit habe sie sich dagegen entschieden: „Als Polizistin bin ich Teil der Exekutive. Der Staat soll neutral sein, nicht umsonst tragen wir ja Uniform. Private Überzeugungen und religiöse Symbole haben da nichts verloren“. Mit ihrer Meinung eckt sie bei Muslimen auch schon einmal an. Und Nicht-Muslime sind oft überrascht, dass Lisa nicht vorbehaltlos für alles Islamische in die Bresche springt.

„Meine Kollegen halten mich manchmal für ein buntes Phänomen auf zwei Beinen“, sagt sie lachend. Denn dann ist da noch etwas, das nicht so ganz ins Klischee der konservativen Muslima passt: Lisa ist lesbisch. Das machte ihren Weg zum Glauben steinig, erzählt sie, steiniger als den zum Outing. Lange, bevor sie den Islam annahm, war ihr klar, dass sie Frauen liebt. Und lange dachte sie, das eine würde das andere ausschließen. Doch bevor sie mehr davon erzählt, kommt Lisa noch einmal auf die Rolle von Frauen im Islam zurück: „Im Koran geht es darum, dass Menschen gute Taten vollbringen. Ob Mann oder Frau, ist zweitrangig“. Auch als gläubige Muslima könne frau selbstständig und selbstbewusst durchs Leben gehen – so wie sie selbst. Mit dieser Meinung ist sie nicht allein. Die Liste muslimischer Feministinnen ist lang, auch wenn ihre säkularen Mitstreiterinnen, die meisten nicht kennen.

IM GENDER JIHAD GEHT ES UM GLEICHBERECHTIGUNG

Islamischer Feminismus, das klingt für viele nach einem Widerspruch. Losgetreten hat die Bewegung im frühen 20. Jahrhundert ein Mann: Der ägyptische Jurist Qasim Amin meinte, es sei eine islamische Pflicht, Kindern ein Vorbild und Lehrer zu sein. Das gelte für Männer und Frauen. Wer Frauen Bildung verwehre, der hindere sie an der Ausübung dieser Pflicht. Diese Argumentation erweiterten muslimische Feministinnen: Der Prophet habe betont, dass Frauen gut zu behandeln seien, er selbst habe sich stets mit starken Frauen umgeben. Nach dem Tod seiner ersten Frau Khadija heiratete Muhammad Aischa. Sie kämpfte bei Schlachten inmitten der Soldaten mit und, noch wichtiger für muslimische Frauenrechtlerinnen: Sie agierte als Vorbeterin während islamischer Gebete, der Überlieferung nach aber nur vor Frauen. Den Vorbeter, also den Imam, durch eine Frau zu ersetzen, wenn auch Männer unter den Betenden sind, ist für viele Muslime bis heute ein Tabubruch.

Genau diesen Tabubruch beging vor zehn Jahren eine der wenigen bekannten muslimischen Frauenrechtlerinnen: Amina Wadud leitete 2005 in New York ein Freitagsgebet – vor Männern und Frauen. Dafür erntete sie sogar Morddrohungen. Dabei besagen weder der Koran noch die Sunna, also die Überlieferung der Taten und Aussprüche des Propheten, dass nur Männer gemischte Gebete leiten dürfen, argumentiert Wadud. Sie prägte auch den Begriff des „Gender Jihad“ für den Kampf von Frauen um Gleichberechtigung innerhalb des islamischen Wertesystems. Den arabischen Begriff „Jihad“ verbinden Nicht-Muslime vor allem mit blutigem Terrorismus islamistischer Gotteskrieger. Doch kaum ein Begriff wird so einseitig verstanden wie dieser: Muslime unterscheiden zwischen dem großen und dem kleinen Jihad. Der große, wichtigere, beschreibt die Anstrengungen jedes Individuums, eigene Schwächen zu überwinden. Den Kampf im Namen der Religion, der nur deren Verteidigung dient und auch nur unter bestimmten Voraussetzungen Gewalt anwenden darf, bezeichnen sie als kleinen Jihad.

ISLAMISCHER FEMINISMUS ALS ALTERNATIVE ZU WESTLICHEN IDEEN

2006 erschien Waduds Buch „Inside the Gender Jihad“, in dem es heißt, dass jeder Muslim sich bemühen müsse, die eigentlichen Vorgaben des Islam, nämlich die gleichwertige Behandlung von Mann und Frau, umzusetzen. Göttliche Vorgaben, so Wadud, richteten sich nämlich an beide Geschlechter, patriarchische Strukturen könnten also gar nicht Allahs Willen entsprechen. In der Umsetzung dieses göttlichen Willens sieht sie eine Form religiöser Praxis. Die assoziieren viele sonst nur mit Gebeten oder etwa dem Verzicht auf Alkohol.

Mit diesen Ideen kann sich auch Hengameh Yaghoobifarah aus Berlin identifizieren: „Religiöse Praxis kann sich auch in feministischem Aktivismus und im Kampf für soziale Gerechtigkeit ausdrücken“, ist die 23-Jährige überzeugt. An religiösen Regeln wie dem Verzicht auf Alkohol oder dem täglichen Gebet sei nicht festzumachen, wie religiös sie sei, erklärt die Journalistin und Bloggerin bei Minztee in einem Café in Berlin-Neukölln. Hengameh spricht mit leiser Stimme, ihre Worte wählt sie mit Bedacht. Doch wenn sie erzählt, wie schockiert so manche Feministin auf ihre Aussage, der Feminismus sei ihr Jihad, reagieren, kann sie sich ein kleines triumphierendes Lächeln nicht verkneifen. Dann wird sie wieder ernst: „Für viele ist es schwer begreiflich, dass islamischer Glaube und Feminismus einander bedingen können“.

Hegameh-6670Hegameh-6570Hegameh-6808

Hengameh wuchs in einer religiösen Familie auf, ihre Eltern kamen aus dem Iran nach Deutschland. Wie Lisa fand sie selbst erst später zu ihrem Glauben – und zu dessen feministischen Aspekten. Frauenrechte waren für sie schon in der Schulzeit ein wichtiges Thema. Dann stieß sie auf feministische Texte von Musliminnen wie Kübra Gümüsay: „Die Erkenntnis, dass es muslimische Feministinnen gibt, ebnete den Weg für viele weitere Erkenntnisse“, erinnert sie sich. Dass so wenig über diese Seite des islamischen Frauenbildes bekannt ist, liegt laut Hengameh auch an der Haltung, mit der viele Feministinnen in westlichen Kulturen anderen Denk-Ansätzen begegnen.

„WHITE FEMINISM IST ARROGANT UND IGNORIERT DIE EIGENE GESCHICHTE“

Als „white feminism“ bezeichnen Kritikerinnen wie Hengameh diese Form des Kampfes für Frauenrechte. „white feminism agiert aus einer sehr privilegierten, weißen, heteronormativen Mittelschichtsperspektive heraus“, erklärt Hengameh. Dessen klassische Themen seien etwa die Frauenquote, Pinkifizierung oder die berühmte gläserne Decke. Themen also, die nur eine ganz bestimmte, privilegierte Gruppe von Frauen beträfen. Wenn sie dies kritisiere, stoße sie oft auf Abwehr: „Mir wurde entgegnet, dass man schließlich nicht für alle mitdenken könne, und dass wir als Frauen doch bitte zusammenhalten mögen“. Hengameh vermisst bei dieser Reaktion Selbstkritik. Die Tendenz zur Ausgrenzung habe sie in der „white feminism“-Szene immer wieder beobachtet: „Es gibt dort transfeindliche, rassistische und anti-muslimische Haltungen. Da wird dann zum Beispiel im Sinne Alice Schwarzers argumentiert, man könne nicht muslimisch und feministisch sein“.

Das sieht Hengameh ganz und gar nicht so. „Im Islam wurde Feminismus schon vor Jahrhunderten promoted“, erklärt sie. Ein Blick ins islamische Scheidungsrecht zeige das. Tatsächlich können Frauen laut islamischem Recht die Impotenz ihres Mannes als Scheidungsgrund anführen. Sex – und die Lust daran – haben im Islam nämlich grundsätzlich einen hohen Stellenwert. In der islamischen Frühgeschichte sei „die Ausübung der Sexualität ein Gebet, ein Sich-schenken, ein Akt der Nächstenliebe“ gewesen, schrieb 1975 der tunesische Soziologe Abdelwahab Boudhdiba. Diese spirituelle Dimension sei jedoch im Laufe der Jahrhunderte in muslimischen Gesellschaften abhanden gekommen: „Den Sinn der Sexualität wiederzuentdecken bedeutet, den Sinn Gottes wiederzuentdecken und umgekehrt“.

Solche Aspekte blendet der „white feminism“ aus. Als sie eine Weile in Schweden lebte, beobachtete Hengameh gerade gegenüber Musliminnen auch einen white saviour-Komplex: Feministinnen mit dieser Attitude können die freie Entscheidung zum Kopftuch beispielweise nicht respektieren. Und wie bezeichnet sie sich selbst in Abgrenzung vom „white feminism“? „Ich stehe für einen intersektionalen, anti-rassistischen Queer-Feminismus“, lautet die Antwort.

MUSLIMA SEIN UND FRAUEN LIEBEN – DARF FRAU DAS?

Denn auch Hengameh bricht nicht nur durch ihre feministischen Ansichten mit Klischees über „die“ Musliminnen. Dass ihr Weg zum Glauben kein einfacher war, hat noch einen Grund: Sie ist queer. Ähnlich wie Lisa dachte auch sie lange, dass dies mit dem Hegameh-6504islamischen Glauben unvereinbar sei. Mit der Bezeichnung „lesbisch“ kann sie sich nicht identifizieren. „Ich definiere mich selbst nicht primär gendermäßig und dadurch, dass mein Begehren nicht hetero ist. Queer steht auch für eine dekonstruierende, kritische, politische Haltung und für die Verweigerung, sich mit gesellschaftlichen Kategorien zu assimilieren“. Lange habe sie die heteronormative, konservative Auslegung des Islams ihrer Eltern für die einzig mögliche gehalten – bis sie in Berlin auf queere Muslime traf: „Da begriff ich, dass ich kein Einzelfall bin und beides sein darf: queer und muslimisch“.

Wie im Christen- und im Judentum hält die Mehrheit der Gläubigen im Islam das Ausleben von Homosexualität für eine Sünde. Muslimische Gelehrte berufen sich dabei vor allem auf den Koran, genauer auf die Geschichte des auch aus der Bibel bekannten Lot. Er soll in Sodom das „schändliche Treiben“ beenden: „Wahrlich, ihr kommt zu den Männern im Gelüst anstatt zu den Weibern! Ja, ihr seid ein ausschweifend Volk!“ Die Sodomiter weisen ihn ab, Gott vernichtet sie. So weit, so eindeutig, möchte man meinen. Doch da ist auch noch Sure 52 – und die klingt ganz anders: Im Paradies bedienen „Jünglinge, schön und rein wie verborgene Perlen“, auch Männer, heißt es da.

DIE ISLAMISCHE WELT GALT IN EUROPA ALS EROTISCHER SÜNDENPFUHL

Diese Szenerie passt zur Poesie der islamischen Kultur vor der Kolonialisierung der arabischen Welt durch Europa: Die weltberühmten Dichter des 13. und 14. Jahrhunderts, Rumi und Hafiz, machten in ihren Texten immer wieder homoerotische Anspielungen – und werden bis heute von Muslimen weltweit verehrt. Und schon im 12. Jahrhundert stellte der Jurist Ibn al-Dschauzi ganz nüchtern fest: „Derjenige, der behauptet, dass er keine Begierde empfindet, wenn er einen schönen Jungen betrachtet, ist ein Lügner.“

Und wie sieht es mit der Liebe zwischen Frauen aus? Hengameh erklärt es so: „Die vorkoloniale islamische Kultur war im Grunde sehr queer eingestellt. Kategorien wie die Unterscheidung zwischen Mann und Frau spielten da noch keine so große Rolle wie heute“. Die europäische Tendenz, alles kategorisieren zu wollen, habe sich erst später auch in der islamischen Welt durchgesetzt. Mitte des 19. Jahrhunderts sei die Auffassung von Sexualität im Islam kolonialisiert worden, schreibt auch Shereen El Feki in ihrem Buch „Sex und die Zitadelle“. Der Orientalismus, der in Kunst und Poesie gutbürgerlichen Europäern das Bild eines lasterhaften, sündigen Orients präsentierte, prägte das Klischee des homophilen Muslims. Richtig gehört: Wo heute Islam, Homophobie und Intoleranz miteinander verbunden werden, stand damals der Islam im Ruf einer homophilen und der Lust am Sex zugewandten Kultur.

Als Reaktion auf den Kolonialismus und die Krise der arabischen Welt entstand der politische Islam – und mit ihm neue Vorstellungen von Sexualität und homofeindliche Tendenzen. „Zugespitzt könnte man sagen, dass die Urururgroßeltern der heutigen „White feminists“ dazu beigetragen haben, dass das, was sie heute bekämpfen, überhaupt entstehen konnte“, meint Hengameh. Dass diese Entwicklung in der westlich-feministischen Kritik am Islam meist unberücksichtigt bleibt, findet sie arrogant und ignorant.

„ALLAH WILL, DASS DIE MENSCHEN GLÜCKLICH SIND“

Lisa und Hengameh lassen sich jedoch weder von Islam-Kritikerinnen noch von konservativen Muslimen davon abhalten, ihre sexuelle Orientierung und ihren Glauben zu leben. „Gerade für die Geschichte von Lot gibt es so viele Interpretationsmöglichkeiten, sie kann auch als Geschichte über verwehrte Gastfreundschaft und Ehebruch verstanden werden“, sagt Lisa.  Noch wichtiger ist für sie, dass Homosexualität nicht aus einer bewussten Entscheidung resultiert: „Ich frage ja auch nicht Heteros, wann sie beschlossen haben, hetero zu sein“. Außerdem gäbe es gar keine Alternative: „Klar, ich könnte nie wieder eine Beziehung zu einer Frau eingehen. Aber das kann nicht der Grundgedanke von Allah sein, denn er ist ein liebender Gott, der möchte, dass wir Menschen glücklich sind“.

In der Lesben-Szene ist sie nur selten unterwegs. Kommt das Gespräch auf ihren Glauben, mache sie eher positive Erfahrungen: „Viele fragen nach und wollen mehr wissen. Die Neugier überwiegt die Ablehnung“. Hengameh hat mit queeren und gay-communities auch schon andere Erfahrungen gemacht. „In queeren, vor allem aber in Schwulenszenen gibt es schon viel anti- muslimischen Rassismus“. Einig sind sich beide darin, dass sie sich nicht vor jedem als queere oder lesbische Muslima outen müssen – sei es, weil sie die fast immer folgenden Grundsatzdiskussionen auch mal leid sind, oder weil sie ihr Gegenüber nicht in Verlegenheit bringen wollen. „In vielen muslimischen Familien und Freundeskreisen herrscht auch eine stille Akzeptanz“, erklärt Hengameh.

Die Idee des Outings hält sie für ein sehr westliches Konzept. „Das Outing entspricht dem Zwang, alles definieren zu müssen. Wenn man sich nicht outet, erntet man in weiß-westlichen Gesellschaften Skepsis“. Dass dies keinesfalls nur für Muslime gilt, zeigte zuletzt auch das Beispiel von Kirsten Stewart, die sich weigerte, sich als lesbisch oder bisexuell zu definieren. Sie halte es einfach nicht für nötig, so ihre Begründung, die auch für einige Verwirrung sorgte.

„OUTING? WIESO EIGENTLICH?“

Im Falle queerer Muslime kommt noch hinzu, dass sich viele mit einem Outing in eine gefährliche Lage bringen, betont Hengameh. In einem Land wie Deutschland drohe ihnen Kritik, in islamisch geprägten Gesellschaften – abgesehen vom Libanon, wo Homosexualität seit Januar letzten Jahres rechtlich nicht mehr als „widernatürliche Handlung“ gilt – sieht es aber anders aus. Im Jemen, Iran, Saudi-Arabien, Sudan und in Teilen der Vereinigten Arabischen Emirate droht im schlimmsten Fall die Todesstrafe. Sie oute sich nur dann als queere Muslima, wenn sie es für angebracht halte. „Als Feministin oute ich mich aber immer“, fügt Hengameh lächelnd hinzu.

HOMOSEXUELLE UND QUEERE MUSLIME UND MUSLIMAS KÄMPFEN WELTWEIT FÜR IHRE RECHTE

Eine der wenigen prominenten lesbischen Musliminnen ist Irshad Manji. Die kanadische Journalistin und Aktivistin ist der Meinung, dass kein Muslim über den anderen richten dürfe, auch nicht in Fragen der sexuellen Orientierung. Das sieht man im Liberal-Islamischen Bund, kurz LIB genauso. In dem Zusammenschluss liberaler Muslime um die Autorin Lamy Kaddor fand auch Lisa AnsprechpartnerInnen, die zwischen ihrem Lesbisch-sein und ihrem islamischen Glauben keinen Widerspruch sehen. In einem offiziellen Statement stellt der LIB klar: „Eine homosexuelle Orientierung ist nach unserer Auffassung weder sündhaft noch krankhaft, sondern Teil der Vielfaltder Schöpfung“.

Muslimisch, feministisch,queer oder lesbisch – frau kann alles sein, das zeigen die Begegnungen mit Lisa und Hengameh. Sie füllen den so oft zitierten Satz „Den Islam und die Muslime gibt es nicht“ mit Leben. Jede auf ihre ganz eigene Weise.

Text Katharina Pfannkuch FOTOS Linn Schröder

Dieser Text ist in der ersten LIBERTINE-Ausgabe #Freiheit erschienen. Versandkostenfrei bestellen unter libertine-mag.com/shop/