KAPITEL
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Utopische Kunst im ewigen Eis

Fernab von Kommerz und Konsum inmitten von Grönlands eisigen Weiten hat die Isländerin Arnbjörg María Danielsen mit dem Disko Arts Festival eine Plattform für „utopisches Denken und maximale Freiheit“ geschaffen. Einheimische und internationale Künstler*innen finden hier Raum, nach neuen Impulsen zu suchen und gesellschaftliche Normen infrage zu stellen.

Als ich mich mit Arnbjörg María Danielsen für das Fotoshooting unser Gespräch verabrede, muss sie über den passenden Treffpunkt nicht lange nachdenken: Das Naturkundemuseum Berlin ist für die Isländerin, die seit einigen Jahren in der deutschen Hauptstadt lebt, Lieblingsort und Inspirationsquelle zugleich. Und Inspiration braucht die 38-Jährige für ihre Arbeit als Kuratorin, Dramaturgin und Regisseurin eigentlich ständig. Nachdem sie Anfang des Jahres zusammen mit dem Göteborg Symphonie Orchester ein audio-visuelles Stück zum Jubiläum von Ingmar Bergman realisiert hat, entwickelt sie momentan mit dem isländischen Symphonie Orchester eine Inszenierung zum hundertjährigen Unabhängigkeitsjubiläum des Landes, bevor sie im Winter als Programm-Managerin und Kuratorin für das Nordic House Reykjavik tätig wird.

In Island und Norwegen aufgewachsen, zog es Arnbjörg schon immer in neue Gefilde. Bereits 2013 gründete sie das Künstler*innen Kolllektiv Far North, das unter ihrer Leitung gemeinsame Projekte entwickelt und einmal im Jahr das Disko Arts Festival realisiert. Benannt ist dieses nicht etwa nach einem Popmusikstil aus den Siebzigern, sondern – ganz pragmatisch – nach einer Bucht im Westen Grönlands mit klingendem Namen: der Diskobucht. „Mein Wunsch war es, mit Far North eine interdisziplinäre Musiktheaterplattform ins Leben zu rufen und Begegnungen und künstlerische Projekte zu ermöglichen, die es so sonst nicht geben würde.“ Dass die international ausgebildete Gruppe – zu der nordische Kreative wie die Schauspielerin und Musikerin Kimmernaq Kjeldsen, die Trommeltänzerin Varna Nielsen sowie Sofia Jernberg und Arnnanguaq Gerstrøm gehören – ausgerechnet im ewigen Eis den Abstand zum übereifrigen Kulturbetrieb der westlichen Metropolen sucht, kommt nicht von ungefähr. Hier zwischen gigantischen Eisbergen weben sich die Lebensfäden für Arnbjörg ineinander: „Die Faszination für Expeditionen ins Unbekannte, die ich bereits als Kind entwickelte, mein Interesse an Forschung und Archäologie sowie meine Ambition, einen Raum für Künstler*innen zu schaffen, lassen sich nirgendwo so gut zusammenbringen wie auf Grönland.“

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Auch die hochgelobte, isländische Komponistin Anna Thorvaldsdottir nutzte als Teil von Far North diese abgelegene Welt als Inspirationsquelle für ihr erstes großes Projekt, die Oper UR_, und feierte damit internationale Erfolge. Doch Arnbjörg geht es um mehr: Sie möchte nicht nur mit dem Kollektiv erfolgreiche Inszenierungen entwickeln, sondern vielmehr „einen Ort für utopisches Denken und maximale Freiheit schaffen“.
Dabei setzt sie auch einen Bezug zur aktuellen Politik in Grönland und zur Situation der Urbevölkerung, den Inuit, deren Kultur durch den dänischen Kolonialismus massiv geprägt wurde. „Das Land ist politisch stark in Bewegung und befindet sich auf Identitätssuche. Auf Grönland schlummert so viel kultureller Reichtum, der bis heute unterdrückt wird. Diese Unterdrückung kommt sanft und unterschwellig daher, was es so schwierig macht, sie zu entlarven und zu benennen. Grönland hat sich bis heute nicht von der Kolonialzeit emanzipiert. Die notwendige intellektuelle und künstlerische Auseinandersetzung mit dem kollektiven Trauma ist noch nicht erfolgt, auch weil es von Seiten der dänischen Regierung nicht gewollt ist – das merken wir direkt und indirekt. Mir ist es daher wichtig, jungen grönländischen Künstler*innen eine Möglichkeit zu geben, sich kreativ und frei zu entfalten“, erklärt Arnbjörg.

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Entsprechend möchte das Disko Arts Festival, das vom 2. bis zum 4. August stattfindet, Künstler*innen Raum geben, die Grenzen, die ihnen durch gesellschaftliche Tabus gesetzt werden, zu sprengen. „Es ist ein Experiment, der Versuch, sich aller Themen und Ausdrucksformen zu bedienen und alle Blockaden und inneren Beschränkungen zu überwinden“, sagt Arnbjörg. „Vielleicht wird es uns gelingen, vielleicht wird es Jahre dauern, bis der Knoten platzt.“

Eigene Grenzen überwinden, Tabus aushebeln – ein verlockender Ansatz. Aber wie lässt sich dieser künstlerisch umsetzen? „Wir wollen in den Bereichen zeitgenössische Musik, Theater und Performance neue originelle Arbeiten in hybriden, experimentellen Formaten entwickeln. Dabei bauen wir auf den Erfahrungen des Far-North-Netzwerks auf“, erläutert die Regisseurin ihren Plan. „Meine Vision ist es, heterotopische Räume zu schaffen, in denen die Definition von Utopie durch künstlerische Praxis entdeckt und gelebt wird. Der Wunsch nach einer anderen, besseren Lebensweise soll sich manifestieren. Dieser Gedankengang reflektiert sich auch im abgelegenen Ort des Festivals.“

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Einige der Künstler*innen bleiben lediglich eine Woche, andere verbringen den ganzen Monat auf Grönland. Auch Besucher sind beim Disko Arts Festival herzlich willkommen. Sie erwartet Pop-UP-Performances, Installationen, Konzerte und Open-Sessions. „Insbesondere Live-Vorführungen haben oft eine sehr machtvolle und emotionale Wirkung und die Kraft, die Selbstwahrnehmung des Publikums zu erschüttern und Selbstverständlichkeiten infrage zu stellen“, erklärt Arnbjörg.
Dass unsere Gesellschaft grundsätzlich mehr Freiheit und utopisches Denken braucht, davon ist die Isländerin überzeugt. „Wir leben in einer Welt, in der der Kommerz alles für sich vereinnahmt, beispielsweise auch spezifische Ausdrucksformen und Symbole von Randgruppen und Minderheiten. Das macht Individualität und Identitätssuche immer komplizierter und schwieriger. Wir werden permanent mit käuflicher Ästhetik bombardiert. Deswegen macht es Sinn, sich mit einer ganz anderen Kultur an einem ganz anderen Ort auf Augenhöhe zu befassen und die Perspektive zu ändern.“

Disko Arts Festival, Diskobucht, Grönland, 2. bis 4. August

Text: Juliane Rump Porträt Arnbjörg María Danielsen: Wendy Taylor

Fotos Disko Arts Festival: Saga Sig, Anders Berthelsen