KAPITEL
Jugendstudie

Die Jugend setzt auf weibliche Werte

Die Jugendlichen von heute haben keine Lust mehr auf 60-Stunden-Woche, dicke Autos und Karriere. Sie wollen Sicherheit, flexible Arbeitszeiten und viel Freizeit. Die Erziehungsmethoden ihrer Eltern finden sie klasse und Gesetzes- und Regeltreue stehen in der Werteordnung ganz weit oben. Das kann man langweilig finden, oder aber emanzipiert. Denn die Werte, denen sich die Jugend von heute verpflichtet fühlt, sind traditionell weiblich!

Die Jugend von heute findet Fleiß ganz besonders wichtig. Und Ehrgeiz. Sie steht für Intuition und gegenseitigen Respekt. Sie möchte nichts mehr revolutionieren, keine großen Risiken eingehen. Lieber taktiert sie, kommuniziert und kooperiert, um Ziele zu erreichen. Sie ist wieder politisch. Sie will sich in die Gesellschaft einbringen, für andere Menschen etwas leisten, die Umwelt schützen. Optimistisch ist sie, im Kleinen wie im Großen, und empathisch.

Die Verfasser der aktuellen Shell Jugendstudie nennen die Alterskohorte der Zwölf- bis Fünfundzwanzigjährigen die „Generation im Aufbruch“. Denn die Werte der Jugend, die zunächst nach Pragmatismus klingen, entpuppen sich als traditionell weibliche Werte und Eigenschaften. Und noch etwas ist interessant, nämlich dass sie nicht nur unter Mädchen eine hohe Relevanz genießen, sondern auch unter Jungs. Zugleich haben einige typisch männliche Verhaltensweisen und Werte in den letzten Jahren an Wichtigkeit verloren.

Annäherung in den Werten

Woher kommt diese Entwicklung? Haben sich die Mädchen in ihrer Beharrlichkeit ihre eigenen Werte ertrotzt? Und auf dem Weg dahin die Jungs gleich mit überzeugt? Tatsächlich scheint die (genderneutraler) Erziehung der letzten Jahre Wirkung zu zeigen: Mädchen können Karriere machen, wenn sie mögen, Jungs auch. Jungs können später in Teilzeit arbeiten, Mädchen auch. Alles kann, nichts muss – die klassischen Rollenverteilungen lösen sich auf.

Die Jugendstudie verrät uns aber noch mehr: Gerade auf den klassischen Karriereweg haben die meisten Jugendlichen heute nämlich keine Lust mehr. Immer unattraktiver wirken hohe Gehälter und Status, wenn sie mit Sechzigstundenwoche im Büro und Wochenendarbeit einhergehen. Das hat die wenigsten jungen Frauen je gelockt und auch immer weniger junge Männer fühlen sich von diesem Lebensmodell angesprochen. Stattdessen setzt die Mehrzahl der Jugendlichen auf einen sicheren Job, der ein Auskommen garantiert und der genügend Freizeit lässt, um sich Familie und Freunden oder dem ein oder anderen Hobby zu widmen. „Work-Life-Balance“ lautet das Zauberwort, am besten in einer Anstellung, in der man einer sinnvollen Tätigkeit nachgeht und das Gefühl hat, etwas zu leisten. Idealismus schlägt also Materialismus.

Noch etwas ist neu: Nicht nur nähern sich die männlichen Jugendlichen in ihren Plänen für die Zukunft eher weiblichen Idealen an. Sie werden auch in anderen Bereichen empathischer: Typisch weibliche Werte wie Gesundheitsbewusstsein und Umweltbewusstsein stiegen in der Wertschätzung. Und obwohl Frauen noch immer höhere Gewichtungen an Werte vergeben, die ein soziales Miteinander und zwischenmenschlichen Respekt bedingen, gleichen sich auch hier die Zahlen sukzessive an. Die überwiegende Mehrheit der Befragten ist pazifistisch und lehnt etwa militärische Interventionen ab, 82% finden es wichtig, die Vielfalt der Menschen anzuerkennen und zu respektieren.

Den Abwärtstrend für traditionell männliche Werte bzw. typisch männliches Verhalten kann man übrigens auch anderenorts beobachten. Eine norwegische Studie  untersuchte kürzlich die Auswirkungen genderneutraler Erziehung auf Schuljungen in einer Schule in Oslo. Die Ergebnisse zeigten: Nicht nur verhielten sich die Jungs freundlicher und kollegialer zueinander, sie sprachen auch offen über Gefühle und hatten keine Angst, ihre Zuneigung zueinander über Körperlichkeiten, wie etwa Umarmungen oder Rückenkraulen, zu zeigen.

Das allmähliche Aufbrechen von Genderrollen macht alle Beteiligten freier und lässt individuelle Biographien zu. Der Druck, einem bestimmten Bild oder einer spezifischen Rolle entsprechen zu müssen, lässt nach und zwar sowohl für Frauen als auch für Männer. Damit setzt auch ein neuer entspannterer Umgang miteinander ein, fernab von früheren rigiden Strukturen. Darin liegt der Hauptverdienst einer Gesellschaft, in der weibliche Werte an Bedeutung gewinnen: das Aufkommen alternativer Bewertungskategorien, nonkonformer Lebensmodelle, neuer Handlungsmöglichkeiten und innovativer Problemlösestrategien – und zwar solcher, die alle Mitglieder einer Gesellschaft, unabhängig von Geschlecht, einschließen. Der Trend weg von Ellenbogenmentalität und Machtstreben hin zu Kommunikation und Kooperation, d. h. vom Gegeneinander zum Miteinander, macht aus vielen Einzelkämpfern Teamplayer. Typisch weibliche Vernetzung öffnet dabei auch neue Wege zum Umgang  mit unserer heutigen komplexen Welt.

Die Unlust der Befragten in der Jugendstudie, sich in überholte Strukturen einzugliedern, ist daher schon fast symptomatisch für unsere Zeit anzusehen. Viele Jugendliche wollen alles: eine erfüllende Arbeit mit guten Verdienstmöglichkeiten, die sich mit Familie und Nachwuchs vereinbaren lässt. 60% dieser Durchstarter-Gruppe, die sich nicht korrumpieren lässt, sind Frauen. Hier ist er wieder, der Trotz! Junge Frauen leisten viel, sind fleißig, besuchen häufiger eine höhere Schule und machen öfter Abitur mit besseren Noten und erwarten einen Arbeitsmarkt, der ihnen gerecht wird. Auch bei der Frage nach den gesellschaftlichen Prioritäten, denen sich die Politik annehmen soll, lag das Thema „Kinder und Familie“ vor „Bildung“ und „sozialer Sicherung“ an erster Stelle. Insgesamt legen junge Frauen mehr Wert auf die Vereinbarkeit von Beruf und Familie, auch schon in diesem jungen Alter, und erwarten von der Politik Lösungen. Sie wollen sich auf allen Ebenen verwirklichen und nicht irgendwann in alte Rollenmuster und Strukturen gezwungen sein.

Die Trends zeigen also zweierlei: Erstens, dass sich die Bewertungsmaßstäbe der Jugend geändert haben, und zwar so, dass das traditionell männliche Arbeits- und Karrieremodell radikal hinterfragt wird. ‚Männlich‘ ist nicht mehr gleich ‚richtig‘. Männliches Machtgehabe bzw. dessen Nachahmung, um im ‚Man’s Club‘ mitspielen zu dürfen, ist uncool. Lange Arbeitszeiten im Büro zulasten des Privatlebens und kompensiert durch hohe Summen sind es ebenfalls. Und ob es wirklich erstrebenswert ist, mit dem Porsche durch die Gegend zu fahren, erscheint der Jugend auch fraglich. Stattdessen wird zweitens der Erfolg individueller und ideeller bewertet, er definiert sich über die Einbindung in ein gutes soziales Netzwerk, Geselligkeit, Freunde und Familie und das Gefühl, etwas Sinnvolles geleistet zu haben. Und zwar für männliche als auch für weibliche Jugendliche.

Dieser Wertewandel ist fundamental, denn er steht nicht nur für eine kleinräumige, sondern für eine nationale und geschlechterübergreifende Veränderung. Und zwar eine, hin zu einer offeneren und entspannteren Gesellschaft, die alternative Lebensweisen und individuelle Handlungsmuster leichter zulässt. Mit der Angleichung der Geschlechter, egal ob in Benehmen oder in Bewertungsverhalten, vollzieht sich übrigens auch eine Angleichung der Wertigkeit von Mann und Frau in der öffentlichen Wahrnehmung. So können sich zum Beispiel die Jungs in der norwegischen Schule ganz getrost in den Arm nehmen, da sie nicht fürchten, als „zu weiblich“ verunglimpft zu werden. Und dies wiederum funktioniert, weil sie Feminines nicht als Minderwertiges wahrnehmen.

Der Einblick, den uns die Shell-Studie gibt ist daher nur ein kleines, ganz kleines Puzzleteil, in einem sich durch alle Bereiche der Gesellschaft ziehenden Female Shift .

 

Text Mae Becker