KAPITEL

Alltagsrassismus – ein Aufruf zur Selbstreflexion

Es gibt Bücher, die sind so wichtig, dass ich sie am liebsten zur allgemeinen Pflichtlektüre erklären würde. „Was weiße Menschen nicht über Rassismus hören wollen, aber wissen sollten“ gehört zweifelsfrei in diese Kategorie. Mit der Autorin Alice Hasters habe ich mich über verborgenen Rassismus, kulturelle Aneignung und „white fragility“ unterhalten.

Juliane Rump: Du beschreibst dich selbst als Schwarze Frau – wobei du Wert darauf legst, dass „Schwarze“ groß geschrieben wird. Welchen Unterschied macht diese Schreibweise für dich?

Alice Hasters: Dass Schwarz groß geschrieben wird, verdeutlicht, dass es sich hier nicht um die Farbe schwarz handelt, sondern um eine politisch-soziale Selbstbezeichnung. Eine Identität. Schwarze Menschen machen aufgrund der Konsequenzen aus Versklavung und Kolonialzeit weltweit ähnliche Erfahrungen. Das beschreibt das Wort Schwarz für mich. Ich habe oft erlebt, dass Menschen von „schwarzer Haut“ sprechen. Das ist aber irreführend. Meine Haut ist braun, nicht schwarz, und Schwarzsein hat zwar viel mit der tatsächlichen Hautfarbe zu tun, aber nicht ausschließlich.

JR: In einigen Interviews wurde dennoch „schwarze Frau“ geschrieben. Ärgert dich das?

AH: Mein Verlag und ich haben oft kommuniziert, dass es mir wichtig ist, dass Schwarz groß geschrieben wird. Manche Redaktionen berücksichtigen das. Andere nicht, mit der Begründung, es könnte Leser*innen verwirren. Natürlich möchte ich nicht, dass Menschen sich beim Interview-Lesen am Wort „Schwarz“ so sehr aufhängen, dass sie alles andere vergessen. Ich bezweifle, dass es vielen wirklich so geht, aber als Journalistin, die schon viele Kommentare und Leser*innenzuschriften gesehen hat, kann ich bestätigen, dass sich Menschen gerade bei Sprache über die kleinsten Veränderungen aufregen. Die Diskurse um Gleichberechtigung gehen mit einer Verhandlung der Sprache einher. Ich glaube, dass sich „Schwarz“ irgendwann durchsetzen wird, ich weiß aber, dass es noch dauern wird.

JR: In deinem Buch beschreibst du viele Alltagssituationen, in denen du Rassismus erfährst, ohne dass es deinem Gegenüber (wahrscheinlich) bewusst ist. Wie sehr nervt es dich, weißen Menschen ihre Privilegien verständlich zu machen, und wie oft hast du das Gefühl, dass es beim anderen wirklich Klick macht?

AH: Ich kann schwer in ein Verhältnis setzen, wie genervt ich davon bin. Zum einen beschäftigt es mich so sehr, nagt so sehr an mir, dass ich bereit bin, ein ganzes Buch darüber zu schreiben. Zum anderen bringe ich aber eben die Geduld auf, über die Privilegien weißer Menschen zu schreiben und zu sprechen. Das hätte ich nicht machen müssen. Wenn ich nicht daran glauben würde, dass so ein Buch einigen Menschen helfen kann, hätte ich es auch nicht getan. Dennoch weiß ich, dass ein großer Teil derjenigen, die das Buch lesen, nichts ändern oder daraus lernen werden. Ich mache mir nicht zu große Hoffnung, dass weiße Menschen mehr über Rassismus verstehen wollen, aber ich habe die Hoffnung auch nicht ganz aufgegeben.

JR: Wenn jemand sichtlich begeistert zu dir sagt, dass du die perfekte Hautfarbe hast, wie kommt das bei dir an, wie reagierst du?

AH: Das ist ein schwieriges Kompliment für mich. Es heißt dann oft, mein Hautton sei „nicht zu dunkel, nicht zu hell“. Was bedeutet das aber? Dass Menschen, deren Hautton dunkler ist als meiner, keine schöne Hautfarbe haben? Dass Menschen mit hellerem Hautton nicht Schwarz genug sind? Ich sehe in so einem Kompliment auch die Missachtung von Schwarzen Menschen mit dunklerer Hautfarbe, die noch sehr viel mehr von Rassismus und eben auch Colorism betroffen sind.

JR: Eine Bekannte von mir, eine Schwarze Frau, sagte einmal zu mir, dass viele Leute in ihrem Freundeskreis so viel Angst haben, unbedacht in ein „Rassismus-Fettnäpfchen“ zu treten, dass ihr Unterhaltungen manchmal krampfig überkorrekt vorkommen, Gespräche an Lockerheit verlieren und Distanz entsteht. Sie fordert ihre Freund*innen dann häufig auf, lieber alles „rauszuhauen“ und dann ggf. darüber sprechen zu können bzw. auf Rassismus aufmerksam zu machen. Kannst du diesen Ansatz verstehen oder findest du ihn eher schwierig, weil man dann als BIPoC* wahrscheinlich ständig „Nachhilfeunterricht“ geben muss?

AH: Ich kann das gut nachvollziehen. Ich hatte auch eine Phase, wo ich es besser fand, weißen Menschen das Gefühl zu geben, dass sie ruhig ihre rassistischen Gedanken vor mir äußern könnten, ohne dass sie sich schlecht fühlen müssten. Viele meiner weißen Freundinnen sagten mir dann, dass sie Angst vor nicht-weißen Männergruppen hatten, und ich gab ihnen das Gefühl, dass das okay sei, total menschlich. Ich versuchte dann sehr sanft und locker dagegenzuarbeiten. Mittlerweile finde ich diese Herangehensweise aber zu anstrengend, weil es bedeutet, dass ich mich zurücknehmen muss und zu viel Raum für „white fragility“ lasse – und für Rassismus. Ich ermutige weiße Menschen heute lieber darin, diese Unsicherheit auszuhalten, und finde es gut, wenn sie versuchen, „überkorrekt“ zu sein. Und ich merke auch, dass die Welt nicht untergeht, wenn ich mal sauer oder ungeduldig auf ignorante, unbedachte, rassistische Kommentare reagiere. Ich glaube, wir müssen durch diese krampfige Phase durch – und danach wird es richtig gut.

JR: Die Frage „Wo kommst du her?“ wird BIPoC (Black, Indigenous and People of Color) häufig gestellt und viele Fragende argumentieren, dass dies einfach aus Interesse geschieht. Wie machst du Leuten klar, dass es dennoch rassistisch ist? Würde es für dich einen Unterschied machen, wenn die Frage anders formuliert werden würde z. B. „Wo liegen die Wurzeln deiner Eltern?“?

AH: Die Frage ist doch, warum das Interesse an „Wurzeln meiner Eltern“ so hoch ist. Würde ich erzählen, dass die Familie meines Vaters über viele Generationen in Düsseldorf gelebt hat, dann fänden das die Menschen nicht wirklich spannend, obwohl das ebenso „meine Wurzeln“ sind. Die Herkunft meiner Mutter, darüber wollen sie allerdings alles wissen. Die Frage dreht sich nicht um meine Herkunft, sondern um meine Hautfarbe. Die Leute wollen wissen, warum ich Schwarz bin – oder wie Schwarz ich bin, nur in diesem Kontext ist mein weißer Vater interessant. Es geht bei der Frage „Wo kommst du her?“ auch oft nicht wirklich um mich. Die Menschen wollen Geschichts-, Politik- oder Geografieunterricht umsonst haben, zu einer nicht-deutschen Region. Wie die Frage genau formuliert ist, stört mich nicht so sehr wie der Zeitpunkt und der Kontext, in denen sie gestellt wird. Es ist keine gute Frage für eine oberflächliche Unterhaltung.

JR: Ein sehr wichtiges Thema deines Buches ist kulturelle Aneignung und wie sie koloniale Strukturen fortsetzt. Schwierig findest du daher auch, wenn sich Stars wie Kim Kardashian die (Hair-)Styles von Schwarzen Frauen kopieren. Was entgegnest du Menschen, die damit argumentieren, dass Kim den Look und damit auch die Schwarze Kultur empowert?

AH: Ich fühle mich nicht durch Kim Kardashian empowert. Ich kenne auch keine Schwarzen Menschen, die sich durch sie empowert fühlen. Kim Kardashian empowert nicht-Schwarze Menschen, sich ebenfalls Schwarze Hairstyles anzueignen, sonst nichts.

JR: Neulich gab es in meinem Freund*innenkreis die Diskussion, dass auf einer Party eine weiße Frau mit Dreadlocks aufgetaucht ist. Die Türsteherin, ebenfalls weiß, war unsicher, ob sie sie abweisen sollte und als ebenfalls weiße Frau überhaupt ein Recht dazu hätte. Was würdest du dir wünschen, wie mit einer solchen Situation umgegangen wird? Wie sollen Weiße allgemein mit Rassismus umgehen, welche Art der Auseinandersetzung wünschst du dir?

AH: Ich wünsche mir, dass weiße Menschen einen Weg finden, damit umzugehen, ohne sich hilfesuchend an mich oder andere BIPoC zu wenden. Ich habe mit Absicht keinen Ratgeber geschrieben oder ein Regelwerk aufgestellt, weil ich weiß, dass die Dinge meist zu kompliziert sind, um einen allgemein gültigen Verhaltenskodex aufzustellen. Ich würde zum Beispiel nicht sagen, dass ich eine Person aufgrund ihrer kulturellen Aneignung nicht komplett einschätzen kann. Zum Beispiel: Finde ich die Dreads von Carola Rakete cool? Nein. Ist das völlig egal, weil diese Person mehrere Leben gerettet hat, sehr viel riskiert hat und das einfach bedeutender ist als die Aneignung Schwarzer Hairstyles? Ja.

JR: „You can’t be what you can’t see“ hat die afroamerikanische Menschenrechtlerin Marian Wright Edelman gesagt. Wie sehr hat es dich beeinflusst, dass Schwarze Menschen hierzulande in den Medien noch immer unterrepräsentiert sind?

AH: Es hat mich insofern beeinflusst, dass ich mir bestimmte Dinge gar nicht vorstellen konnte. Ich glaube, das haben viele marginalisierte Menschen gemeinsam. Man lernt sehr früh, dass man Neben- und nicht Hauptrolle ist, wenn man denn überhaupt vorkommt. Es beeinflusst, wie man sich in der Welt wahrnimmt, welche Ansprüche man stellt, wie wohl man sich in bestimmten Räumen fühlt, was man sich zutraut. Es beeinflusst eine ganze Menge. Ich bewundere die Menschen, die sich davon nicht einschüchtern lassen. Ich war nicht so. Ich war immer eine Person, die Vorbilder brauchte.

JR: Du schreibst in deinem Buch viel über Identität, was die Identitätsfindung erschwert hat und wie sich die Puzzleteile für dich nach und nach durch verschiedene Erfahrungen zusammengefügt haben. Was war für dich besonders prägend und was bedeutet Identität heute für dich?

AH: Ich finde es schwierig, diese Frage zu beantworten. Identität ist mein Selbstbild und wird jeden Tag geprägt. Ich möchte eine starke, aber keine starre Identität haben. Dadurch, dass ich mich so wenig in der Welt reflektiert gesehen habe, als ich aufgewachsen bin, kann ich mich mit vielen und gleichzeitig mit niemandem so richtig identifizieren. Je nach Tagesverfassung macht mich das manchmal froh, manchmal traurig.

JR: Auch die Liebe ist Thema in deinem Buch. Wie schwierig ist es, eine Beziehung mit jemandem zu führen, der als privilegierter weißer Mensch einfach nicht die gleichen Erfahrungen gemacht hat?

AH: Es bedarf viel Kommunikation, sonst geht es nicht. Man muss über Unterschiede reden können und nicht ständig versuchen, sie auszuradieren. Aber ich glaube, man muss sich auch immer wieder ins Gedächtnis holen, dass es nicht nur Unterschiede gibt. Ich bin mit meinem Freund zusammen, weil ich mich in vielen Aspekten von ihm verstanden und gesehen fühle. Aber ich könnte nicht mit ihm zusammen sein, wenn ich ihm nicht ehrlich sagen könnte, wo es aufgrund der Tatsache, dass er ein weißer Mann ist und ich eine Schwarze Frau bin, Konflikte oder Spannungen gibt.

JR: Zumindest in Berlin gibt es ein breites kulturelles Angebot exklusiv für BiPoC. Wie notwendig ist dieses „Unter sich sein“?

AH: Mir tut das sehr gut. Mich nicht erklären zu müssen, ist für mich eine Ausnahmesituation, die ich eben habe, wenn ich unter BIPoC bin – und das entspannt mich. Außerdem kommt man mal dazu, über Dinge zu reden, die außerhalb des weißen Blicks sind. Auch unter BIPoC gibt es viel, über das gesprochen werden muss. Man kommt nur so selten dazu, weil man Diskurse meist aus einer weißen Perspektive denkt.

JR: Sehr deutlich wird in deinem Buch auch, wie wichtig die Auseinandersetzung mit Kolonialismus ist, dass aber gerade dieser Teil unserer Geschichte im Unterricht kaum Raum findet. Wie wichtig wäre es, die Lehrpläne entsprechend zu gestalten?

AH: Ich glaube, die Lehrpläne zu verändern wäre ein essenzieller Schritt in der Bekämpfung von systemischem Rassismus. Weil in der Schule so wenig über die Kolonialzeit gelehrt wird, können viele Menschen die Welt, wie sie heute ist, nicht richtig einordnen. Ich weiß nicht, wie viele Menschen eine gute Antwort auf die Frage hätten, warum Europa wohlhabend ist und Afrika nicht. Außerdem müssten wir aufhören, die Aufklärung und ihre berühmten Denker wie Kant oder Hegel zu glorifizieren. Es war die Zeit, in der Rassismus verwissenschaftlicht wurde, und die großen Philosophen trugen einen bedeutenden Teil dazu bei.

JR: Dein Buch verdeutlicht, dass mehr Rassismus in uns allen steckt, als wir selbst geahnt oder uns eingestanden haben. Bist du optimistisch, dass sich rassistische Muster überwinden lassen und Weiße aufhören, weiße Menschen als den neutralen Standard zu sehen?

AH: Nein. Heute nicht. Heute ist Montag, der Tag nach der Thüringen-Wahl, bei der die AfD 22 Prozent bekommen hat, mit Björn Höcke als Spitzenkandidat. Ich habe gerade gelesen, dass ein neues Gutachten belegt, dass Oury Jalloh 2005 vor seinem Tod in einer Polizeizelle in Dessau misshandelt wurde – und wahrscheinlich wird niemand dafür belangt werden. Ich habe gestern einen Dokumentarfilm über eine südafrikanische Söldner-Gruppe gesehen, die bis in die 90er-Jahre Unsägliches getan haben soll, um das Apartheidsregime aufrecht zu erhalten. Rassismus ist nicht nur eine Sache der Ignoranz, die mit richtiger Aufklärung erledigt ist. Bei manchen schon, aber bei vielen nicht. Es gibt genug Menschen, die aktiv daran arbeiten, Rassismus aufrechtzuerhalten, und genug Menschen, die gerne wegschauen, weil sie ihre Privilegien doch ganz gerne behalten wollen. Heute bin ich nicht optimistisch, heute bin ich verzweifelt.

Das Interview hat im Oktober 2019 stattgefunden und ist erstmal in der LIBERTINE Printausgabe 08 #Identität erschienen, die hier bestellt werden kann.

Interview: Juliane Rump Foto: H. Henkensiefken

Alice Hasters: Was weiße Menschen nicht über Rassismus hören wollen, aber wissen sollten, Sachbuch, hanserblau, 208 S., ISBN 978-3-446-26425-0