KAPITEL

„Das melancholische Mädchen“: Ungemein ungewohnt

„Ich warte.“ „Auf den Prinzen? Da kannst du aber lange warten!“ „Ich warte auf das Ende des Kapitalismus.“

Es sind Dialoge wie dieser, die einen durch diesen Film tragen und vor der Leinwand festnageln, obwohl man nicht so ganz versteht, was gerade mit einem passiert. „Ungewohnt“ ist vielleicht das Wort, das das Filmerlebnis „Das melancholische Mädchen“ am Besten beschreibt. Jeder Satz, jede Kameraeinstellung, jedes einzelne Bild dieses Filmes möchte man aufschreiben, ausdrucken, an die Wand pinnen und am Besten nochmal ein paar Tage darüber nachdenken. Man fühlt sich gleichzeitig irgendwie verstanden und irgendwie verstört, wenn das namenlose melancholische Mädchen so durch die Großstadt irrt auf der Suche nach irgendwas, aber eben sicher nicht nach einem Mann.

Die Wahrheit in der Künstlichkeit

Der Plot des Spielfilmdebüts von Autorin Susanne Heinrich ist schnell erzählt: Eine wohnungslose Schriftstellerin steckt in einer Schreibblockade. Sie kommt nicht über den ersten Satz des zweiten Kapitels ihres Buches hinaus. Auf der Suche nach einem Bett für die Nacht trifft sie in irgendeiner Großstadt eine Menge skurriler Gestalten – Männer, Frauen, Menschen, Tiere – und führt mit ihnen spitze, überpräzise und schlaue Dialoge, die lange nachhallen. Die Szenerien sind künstlich-konstruiert und eigentlich durchdachte Theatersets, die gar nicht so tun, als wären sie real. Nichts an diesem Film wirkt natürlich, und trotzdem transportiert er sehr viel Wahrheit.

„Im Film muss immer etwas passieren. Melancholischen Mädchen passiert nichts“, sagt die Protagonistin gleich zu Beginn. Und es stimmt: Der Film verweigert sich den Grundregeln des Filmemachens. Es gibt keine Spannungskurve, keine Entwicklung, keine Zeitangaben, keine Reihenfolge. Wir schauen der Protagonistin beim Sein zu, nicht mehr und nicht weniger. Sie geht zu einem Casting. Sie nimmt Drogen in einem Club. Sie sitzt mit einem Fremden in der Wanne. Sie spricht mit ihrem Psychologen. Sie schleppt einen Bauarbeiter ab. Sie isst vier Minuten lang ein Eis. Und dann ist der Film auch schon wieder vorbei. Und trotzdem denkt man tagelang über ihn nach.

Die Abschaffung des männlichen Blicks

Ganz nebenbei wird dabei ein neues feministisches Narrativ erschaffen. Denn bisher kannte man diesen Typ Mensch aus Film und Literatur nur als Mann: Als den alternden, missverstandenen Künstler, der mit viel zu jungen Frauen schläft und zu keiner wirklichen Nähe fähig ist. Ganze Genres bauen auf diesem Archetyp der missverstandenen Männlichkeit auf. Frauen kamen in dieser Art von Narrativ lediglich als dekoratives Beiwerk oder mystische Fabelwesen vor. Beim melancholischen Mädchen ist das anders. Hier sind es die Männer, die gerne zu ihr durchdringen würden, es aber nicht schaffen – denn sie schwebt über den Dingen, sie ist nicht interessiert an einer echten Verbindung. Ein Mann stellt für sie keine Erlösung dar. Es ist ein Typ Frau, der im Film vielleicht noch nie so portraitiert worden ist. Dabei schafft Regisseurin Susanne Heinrich etwas, wovon in den letzten Jahren viel geredet worden ist: Sie dekonstruiert unsere Sehgewohnheiten, schafft den männlichen Blick ab und ermöglicht eine neue Perspektive. Das ist – und da ist das Wort wieder – ungewohnt, aber ungemein befreiend und erfrischend.

Eine Menge intelligente Fragen, keine Antworten

Das melancholische Mädchen ist, wie sie selbst sagt, eine äußerst ungeeignete Filmprotagonistin, denn ihr passiert nichts. Was macht ihren Reiz dann aus? Auch das beantwortet sie im Prolog des Filmes selbst, wenn sie sagt: „Man kann von melancholischen Mädchen nichts lernen außer über die Zeit und den Ort, die sich in ihnen spiegeln.“ Und tatsächlich greift der Film in nur knapp siebzig Minuten beinahe alle Dilemmata auf, die die Moderne so zu bieten hat: Kapitalismus, Hedonismus, Klassenunterschiede, Technologie, Identität, Entfremdung. Er seziert und zerlegt die Absurdität der Gegenwart und lässt einen dann perplex ohne Fazit oder Erkenntnis damit zurück. Deswegen werden sich an diesem Film auch die Geister scheiden: Er bietet keine Antworten, aber eine Menge höchst intelligenter Fragen. Wem das genügt, der wird ihn lieben.

Text: Johanna Warda Fotos: Edition Salzgeber

„Das melancholische Mädchen“ läuft seit dem 27. Juni in ausgewählten Kinos. 
Hier findet ihr alle Infos.