KAPITEL
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Lebensrettender Aktivismus

Täglich ertrinken Menschen auf der Fluchtroute über das Mittelmeer. Pia Klemp ist Kapitänin und für Nichtregierungsorganisationen (NGOs) auf dem Meer unterwegs. Einen Teil des Jahres verbringt sie mit dem Kampf um die Erhaltung mariner Lebensräume, in der restlichen Zeit patrouilliert sie mit Sea-Watch auf dem Mittelmeer.

Pia Klemp sitzt in Barcelona, als ich mit ihr spreche. Sie war bis Mitte Mai auf der Sea-Watch 3 im Mittelmeer unterwegs, um vor der libyschen Küste zu patrouillieren.

Vor langer Zeit hat Pia mal Biologie studiert. Danach lebte sie drei Jahre in Indonesien. Schon vorher hatte sie sich für Tier- und Menschenrechte engagiert. Im weltgrößten Inselstaat begegnete sie als Tauchlehrerin zwei Extremen: zum einen der Schönheit des Meeres, zum anderen der Realität der Meereszustände. So kam sie zunächst zur internationalen Meeresschutzorganisation Sea Shepherd, wo sie als ungelernte Deckshand anheuerte.

Auf den Schiffen von Sea Shepherd hat sie sich zum Decksmanager und Offizier hochgearbeitet. Dann folgte der sogenannte Master of Yachts, „ein kommerzieller Yachtenschein, der eigentlich für die Schickeria dieser Welt gedacht ist, um die teuren Superyachten hin- und herzukutschieren“, so Pia, die das Zertifikat nutzt, um Schiffe der NGOs Sea Shepherd und Sea-Watch steuern zu können. Heute ist die 34-jährige Kapitänin noch eine Ausnahme auf den Weltmeeren, wo nur etwa jedes hundertste Schiff von einer Frau gesteuert wird: „Grundsätzlich ist die Schifffahrt eine männerdominierte Welt, sei das die Frachtschifffahrt oder auch die Yachtenwelt, da sind eigentlich alle Schlüsselfunktionen durch die Bank weg mit Männern besetzt.“

Den Winter über war die Aktivistin für Sea Shepherd auf der Farley Mowat vor der Küste Mexikos unterwegs. Sie zogen illegale Netze aus dem Golf von Kalifornien, um den bedrohten Totoaba-Barsch zu schützen. Dessen Schwimmblase wird auf den Schwarzmärkten Asiens als Aphrodisiakum und Heilmittel gehandelt und gilt als das sogenannte „Kokain des Wassers“. Ein Kilo kann um die 60.000 Dollar kosten. Seit 40 Jahren kämpft Sea Shepherd aktiv für den Erhalt des marinen Lebensraumes und ist bekannt für direkte Aktionen auf dem offenen Meer. Mittlerweile zählt sie zu einer der effektivsten und einflussreichsten Meeresschutzorganisation.

„Wenn Menschenrechte nicht für alle Menschen gelten, verlieren sie ihre Wertigkeit.“

In ihrer Freizeit steuert Pia Klemp die Sea-Watch 3, das einzige Schiff der privaten Hilfsorganisation Sea-Watch. Die Aktivistin wünscht sich, in Europa würde man sich mehr Gedanken über die ursprüngliche Bedeutung der Menschenrechte machen, statt sich auf bisher Erreichtem auszuruhen und sich hinter kleinen Problemen und unbegründeten Ängsten zu verstecken. Kann man jemandem das Recht auf ein besseres Leben absprechen? Kann man jemandem das Recht auf Flucht verweigern? Die von der Zivilgesellschaft finanzierte NGO war in den letzten drei Jahren an der Rettung von über 35.000 Menschen im Mittelmeer beteiligt und gründete sich 2014 als Reaktion auf das Ende der italienischen Operation „Mare Nostrum“. „Mare Nostrum“ wiederum war ein italienisches Seenotrettungsprogramm, das 2013 als Reaktion auf die Tragödien im Mittelmeer entstand. Während des Programms konnten Tausende Geflüchtete aus dem Mittelmeer gezogen werden. Da sich europäische Regierungen aber weigerten, die kostenintensive Operation zu unterstützen und in eine europäische Seenotrettung zu überführen, wurde sie bereits nach einem Jahr eingestellt. Heute übernimmt die EU-Grenzschutzagentur Frontex ihre Aufgaben, die aber vor allem gegen Schleuserbanden vorgeht und die Außengrenze Europas schützen will, ohne aktiv nach Geflüchteten zu suchen. Sea-Watch versucht hier neben anderen NGOs wie „Ärzte ohne Grenzen“ oder „Jugend rettet“ eine Lücke zu schließen, die sich unter anderem mit dem Ende von „Mare Nostrum“ aufgetan hat: das Fehlen „flächendeckender und institutionalisierter Seenotrettung mit klarem Mandat“.

Die Sea-Watch 3 patrouilliert immer in der der libyschen Küste vorgelagerten sogenannten Search-and-Rescue-(SAR-)Zone. Während der Patrouille wird mit Ferngläsern, Radar und der Moon Bird, einem zivilen Aufklärungsflugzeug, geschaut, ob Boote in Seenot auffindbar sind. Oft wird die Crew auch von dem Maritime Rescue Coordination Center (MRCC) in Rom kontaktiert, die den Freiwilligen der Sea-Watch mitteilen, ob ein Boot sichtbar ist. Ist das der Fall, werden RIBS, sogenannte Festrumpfschlauchboote, vorgeschickt, die die Menschen auf den Booten mit Rettungswesten versorgen und schauen, ob es medizinische Notfälle gibt. „Ist die Lage erstmal unter Kontrolle und ruhig, shutteln wir die Leute von den Flüchtlingsbooten mit unseren RIBS auf die Sea-Watch 3 oder auf größere Militär- oder Küstenwachenschiffe, wenn sie in der Nähe sind“, erklärt Pia.

„Da ist nur sehr wenig Rosarot in sämtlichen Brillen, die ich trage.“

Die europäische Migrationspolitik versucht um jeden Preis, Geflüchtete fernzuhalten. Den einst humanitären Ansatz der Aktion „Mare Nostrum“ führen fast nur noch NGOs aus, doch die zunehmende Bedrohung dieser Freiwilligen durch die libysche Regierung gefährdet deren Rettungseinsätze. Immer häufiger geraten Schiffe europäischer Hilfsorganisationen mit der libyschen Küstenwache aneinander, die den europäischen Wunsch des Abdrängens der Geflüchteten auf dem Mittelmeer ausüben soll. Auch Pia und ihre Crew sind Anfang November letzten Jahres mit der Sea-Watch 3 auf die libysche Küstenwache gestoßen.

Dieser Einsatz brachte Pia, die am Steuer des Schiffes war, an ihre eigenen Grenzen. Sie beschreibt ihn trotzdem als leicht überschreitbare Grenze, denn „sämtliche Risiken, die wir auf dem Schiff in Kauf nehmen und tragen müssen, sind nichts im Vergleich zu den Risiken, die die Menschen auf der Flucht über sich ergehen lassen müssen, ohne eine Wahl zu haben. Bis dahin harre ich all der Grenzen, die sich dort auftun werden und die von mir überschritten werden wollen“, betont sie eindringlich.

Während des November-Einsatzes war die Sea-Watch 3 kurz nach der libyschen Küstenwache zu einem in Seenot geratenen Flüchtlingsboot gekommen. Zahlreiche Menschen waren bereits im Wasser, alle ohne Rettungswesten und viele schon tot. „Der November-Einsatz hat sehr brutal und ehrlich gezeigt, wie die Situation an den europäischen Außengrenzen aussieht, denn im gleichen Einsatz waren auch ein französisches Kriegsschiff und ein italienischer Marinehelikopter dabei, die nichts getan haben, um die Libyer von dieser angeblichen Rettung abzuhalten, die mehr Menschenleben gekostet als gerettet hat“, so Pia. Etwa vierzig Menschen wurden zurück nach Libyen verschleppt, die Sea-Watch 3 hatte knapp sechzig Leute retten können und fuhr mit einem toten zweieinhalbjährigen Kind im Tiefkühler in den nächsten ihr zugewiesenen Hafen.

„Die große Herausforderung ist, sich nicht frustrieren zu lassen. Ob das jetzt die Sichtbarkeit der Überfischung und Verschmutzung der Meere ist, dass wir so viel an unendlich schönem Leben verlieren, oder ob es darum geht, wie willig die Welt dabei zuschaut oder wegschaut, wenn Tausende von Menschen im Mittelmeer sterben, während nur ein paar Seemeilen weiter Champagner an der Côte d’Azur getrunken wird. Das sind die weniger schönen Herausforderungen“, erzählt mir die Kapitänin, in ihrer Stimme schwingt ein verärgerter Unterton mit.

„Grundsätzlich finde ich es total bescheuert, dass wir das machen müssen“, so Pia, „das fühlt sich wie eine verrückte Welt an, wenn die tödlichste Grenze die Außengrenze Europas ist und sich ein Haufen Freiwilliger der Sache annehmen muss.“ Denn auch wenn die zivile Flotte auf dem Mittelmeer gar nicht so klein ist, sollte die Lösung eine politische sein, statt die Symptombekämpfung privaten Hilfsorganisationen zu überlassen.

Pia ist der Idealismus ihrer Handlungen sehr bewusst. Sie selbst sagt, dass es nicht immer nur darum gehe, Dinge zu tun, für die man sich im Voraus schon ein Erfolgsversprechen abholen kann, und zitiert die amerikanische Ethnologin Margaret Mead: „Zweifle nie daran, dass eine kleine Gruppe engagierter Menschen die Welt verändern kann – tatsächlich ist dies die einzige Art und Weise, in der die Welt jemals verändert wurde.“

Text: Rebecca Heinzelmann Fotos: Sea-Watch

Dieser Artikel ist erstmals in LIBERTINE 07 #Glück erschienen und stammt aus 2018.