KAPITEL
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Liebe: Der ewige Tanz zwischen Anpassung und Autonomie – Warum sein Gelingen so wichtig für unsere Beziehungen ist

Mal wieder ein Dating-Déjà-vu gehabt? Egal was du tust und wie sehr du dir geschworen hattest, dass zukünftig alles anders und irgendwie besser laufen würde: Früher oder später findest du dich in den altbekannten Verstrickungen wieder. Warum du bei Liebesdingen so oft an die „Falschen“ gerätst und dich von ungünstigen Konstellationen geradezu magisch angezogen fühlst, weiß die Psychotherapeutin Stefanie Stahl. – Und hat gleichzeitig eine Portion Hoffnung im Gepäck: Beziehungsmuster und das sogenannte Beuteschema lassen sich umprogrammieren – wenn man seinen Prägungen auf den Grund geht.

Gerade einigermaßen von der letzten gescheiterten Beziehung erholt und schon findest du dich auf den gängigen Datingplattformen wieder? Das ist nicht unbedingt sinnvoll, aber dennoch menschlich: Unser Bindungsbedürfnis ist tief in uns verankert und für die meisten Menschen ist eine Beziehung der Gipfel des Glücks. Dennoch scheint es alles andere als einfach, eine Partnerschaft einzugehen, zu vertiefen und langfristig ausgeglichen zu leben.

Was uns oft in die Quere kommt, sind unbewusste Prägungen, die unsere Beziehungsmuster und das sogenannte Beuteschema stark beeinflussen. Davon ist Stefanie Stahl überzeugt. Als Psychologin und Autorin etlicher Bücher zum Thema Bindung weiß die gebürtige Hamburgerin, wovon sie spricht.  „Was unsere Beziehungen erschwert, ist oft ein unbewusstes Beuteschema, das von Kindheitserfahrungen und -prägungen und unserem Selbstwertgefühl geleitet wird. Da kann uns das Schicksal noch so oft den oder die Richtige*n zuspielen, wir sehen es einfach nicht. Häufig suchen wir uns Menschen aus, die scheinbar etwas haben, das uns fehlt. So springen Personen mit einer starken Bindungssehnsucht häufig auf Partner*innen an, die sehr autark und unabhängig wirken. Doch nicht selten steckt hinter dieser Unabhängigkeit eine Bindungsangst (mehr dazu). Das Drama ist in dieser Konstellation somit schon vorprogrammiert“, erklärt die Therapeutin, die eine eigene Praxis in Trier betreibt.

„Unsere ersten Liebesbeziehungen sind jene zu unseren Eltern. Hier lernen wir, ob wir es wert sind, dass man sich um uns kümmert, und ob wir Einfluss auf unser Leben nehmen können. Bei unseren Eltern machen wir existenzielle Erfahrungen mit Bindung und Autonomie.“ Bindungsprobleme wurzeln ihrer Überzeugung nach wie die meisten Störungen in Kindheitserfahrungen: „Das Elternhaus ist unser Wegweiser für spätere Liebesbeziehungen. Hier lernen wir, ob Liebe ein Geschenk ist oder ob wir uns die Liebe hart erarbeiten müssen. Die Ursachen und Zusammenhänge sind dabei vielschichtig und schwer in wenigen Sätzen zu erklären.“  In ihren Büchern setzt sie sich mit diesem komplexen Thema ausführlich auseinander. In aller Kürze zusammengefasst: Neben zu wenig Zuwendung oder einer großen emotionalen Unzuverlässigkeit der Bezugsperson kann sich auch eine Näheüberflutung bzw. ein Anklammern durch einen Elternteil negativ auf unsere Bindungsfähigkeit auswirken. Auf diese Weise lernen Kinder oft, dass sie verantwortlich für das Wohl ihrer Bezugsperson sind und die eigenen Bedürfnisse nach Autonomie und Freiheit unterdrücken müssen, um deren Erwartungen zu erfüllen. Diese Annahme überträgt sich – meist unbewusst – auf spätere Beziehungen.

Zwischen Anpassung und Selbstbehauptung

Stefanie Stahl ist sich sicher, dass jede*r eine glückliche Beziehung führen kann, wenn ihr*ihm der Tanz zwischen Anpassung und Autonomie gelingt. Denn insbesondere ein Gleichgewicht zwischen Anpassungsfähigkeit und Abgrenzung ist aus ihrer Sicht der Schlüssel zu einer funktionierenden Beziehung. Die Bestsellerautorin ist zu der Überzeugung gekommen, dass die Wahl eines Partners bzw. einer Partnerin ebenso wie das Gelingen oder Scheitern einer Beziehung sich auf die Gegensätze Bindung und Autonomie sowie Unterlegenheit und Überlegenheit reduzieren lassen. Was recht banal klingt, hat weitreichende Folgen. „Die Anpassung dient unserem Bindungsbedürfnis und die Selbstbehauptung unserem Bedürfnis nach Autonomie. Wer sich nicht anpassen kann, kann sich nicht binden, und wer sich nicht selbst behaupten kann, verliert innerhalb seiner Beziehung seine persönliche Freiheit“, erklärt die Psychologin.

Ein beachtlicher Teil der Menschen passt sich tendenziell eher zu sehr an oder grenzt sich zu stark ab. Einige pendeln auch zwischen beiden Polen, je nach Art und Phase der Beziehung. „Es ist daher äußerst wichtig, zu reflektieren, wie man in Bezug auf die Themen Bindung und Autonomie innerlich aufgestellt ist. Ob man beispielsweise mehr zu den Menschen gehört, die eher überangepasst durch das Leben gehen, immer versuchen, alles richtig zu machen, die immer nach Bindung und Anerkennung durch andere Menschen suchen, oder ob man eher so ein autonomer Typ ist, für den Sicherheit bedeutet, auf Abstand zu anderen Menschen zu bleiben, sich lieber nur auf sich selbst zu verlassen und eher kompromisslos stur sein eigenes Ding zu machen. All diese Themen wirken sich stark auf unser Beziehungsglück aus.“

Studien bestätigen Stefanie Stahls Einschätzung, dass etwa die Hälfte der Menschen sehr gesund an Beziehungen herangeht, während die andere Hälfte Probleme mit der Bindung hat: teils durch zu große Anpassung und Beziehungsabhängigkeit, teils durch zu starke Abgrenzung und das Ausweichen vor Beziehungen.  Überangepasste Menschen unterdrücken insbesondere in Liebesbeziehungen häufig weitgehend ihre eigenen Wünsche und Bedürfnisse und bemühen sich, die Erwartungen ihrer Partnerin bzw. ihres Partners bestmöglich zu erfüllen. Sie sind von der unterschwelligen Angst getrieben, dass sie andernfalls die Nähe zu ihrer*m Liebsten verlieren könnten, und geraten dadurch schnell in eine Abhängigkeit. Verstärkt wird diese Angst natürlich durch Partner*innen, die sich immer wieder übermäßig abgrenzen. Womit wir wieder beim Thema Beuteschema wären: Meistens interessieren sich Menschen, deren Bindungsbedürfnis stärker ausgeprägt ist, nicht für ihresgleichen. Stattdessen fühlen sie sich zu den scheinbar unabhängigen Menschen hingezogen, die wiederum häufig aber gar nicht so unabhängig, sondern eher bindungsängstlich sind. Hier wäre es nach Meinung von Stefanie Stahl wichtig, dass die „Nähe-Menschen“, die häufig die Beziehung zu einem anderen Menschen an oberste Stelle setzen, mehr für ihre eigene Unabhängigkeit tun. Dadurch wären sie zum einen weniger fasziniert von scheinbar autarken Menschen, zum anderen würden sie leichter durchschauen, wenn sie es beim anderen mit einer Pseudo-Autonomie zu tun haben, hinter der eigentlich eine Beziehungsangst steckt. „Je mehr ich meine eigenen Muster verstehe, desto weniger bin ich bereit, ihnen zu folgen, und gebe potenziellen Partner*innen, die ich vorher gar nicht wahrgenommen habe, eine Chance. Verändere ich etwas in mir, verändere ich meine Wahrnehmung“, stellt Stefanie Stahl klar. Apropos Wahrnehmung. Nach Meinung der Psychologin sollten Menschen, die immer wieder an Beziehungen scheitern, stürmische Verliebtheit in Bindungsfragen nicht als Ratgeberin hinzuziehen. Denn da, wo man schnell entflammt, wirkt höchstwahrscheinlich wieder die alte Prägung.

Selbstreflexion und Arbeit mit dem Inneren Kind

Gerade Menschen mit einem großen Bindungsbedürfnis neigen dazu, sich für das Scheitern oder Gelingen einer Beziehung verantwortlich zu fühlen. Das Bedürfnis, den anderen von ihrem Wert zu überzeugen – insbesondere, wenn dieser die Beziehung immer wieder boykottiert –, verleitet sie dazu, viel zu lange in einer negativen Beziehung zu verharren. Das kann allerdings auch Menschen passieren, die ein sehr gesundes Selbstwertgefühl haben. „Wir sprechen in der Psychologie von gespiegeltem Selbstwert. Das kleine Kind lernt seinen Wert durch den Spiegel seiner Eltern“, erklärt die Psychologin. Diese Konditionierung greift auch in der Partnerschaft: „Wenn uns der andere also immer wieder vermittelt, dass wir nichts wert sind, indem er uns herabsetzt, uns demontiert, dann sind wir so konditioniert, dies auf uns selbst zu beziehen. Bei vielen springt dann ein System an, die Situation irgendwie unter Kontrolle bekommen zu wollen und den anderen unbedingt von sich überzeugen zu müssen. Dagegen sind, wie gesagt, auch Menschen mit einem guten Selbstwertgefühl nicht immun, nur machen sie es meistens nicht so lange mit.“ Wenn wir unsere Beziehung also verbessern oder einen Partner bzw. eine Partnerin finden möchten, mit dem bzw. der wir glücklich werden, ist es notwendig, genau hinzuschauen, woran es bisher hapert, und das eigene Bindungsprogramm besser zu verstehen. Wir haben die Tendenz, unser Unglück im Außen zu verorten. Tatsächlich hat es dort eher selten seine Wurzeln – nach Meinung von Stefanie Stahl eigentlich nur bei völlig unverschuldeten Schicksalsschlägen. Sie geht davon aus, dass alle Probleme, die im weitesten Sinne eine eigene Beteiligung aufweisen – und das gilt für alle Beziehungsprobleme –, hausgemacht sind. Eine Aussage, die vielen nicht schmecken wird. Denn so unerlässlich die Beschäftigung mit den eigenen Mustern und tieferen Glaubenssätzen auch ist, so schwierig gestaltet sie sich häufig. Nicht immer ist es einfach, den Zugang zu eigenen Prägungen oder, anders gesagt, zu seinem inneren Kind zu finden. Das „innere“ Kind ist eine psychologische Metapher, die für jenen Persönlichkeitsanteil in uns steht, der immer wieder unbewusst in alte, kindliche Muster zurückfällt. In ihren Büchern ,,Das Kind in dir muss Heimat finden“ und „Jeder ist beziehungsfähig“ gibt Stefanie Stahl Hilfestellung mit konkreten Aufgaben zu der Arbeit mit dem inneren Kind. Darüber hinaus bietet die Psychologin zu beiden Themen Online-Seminare (siehe Infos unten) an, die jederzeit im eigenen Tempo durchgearbeitet werden. Unterstützend wirken dabei Videoeinheiten, in denen die Autorin Zusammenhänge und die Übungen auf den Arbeitsblättern erklärt In Lockdown-freien Zeiten bietet sie darüber hinaus Wochenendseminare an, bei denen sich die Teilnehmer*innen intensiv mit eigenen Prägungen, Mustern und Glaubenssätzen beschäftigen.

Nie geht es beim Blick in die Kindheit darum, eine*n Schuldige*n zu finden. Vielmehr dient die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit der Selbsterkenntnis. Stefanie Stahl ist überzeugt, dass man sein inneres Kind heilen kann und dass das Maß an Reflexion auch darüber bestimmt, was wir emotional wie bewerten: „Kognitive Erkenntnisse beeinflussen unsere Entscheidungen und hinterlassen gleichzeitig Spuren in Bezug auf unsere Emotionen, das kann man nie so ganz trennen.“

Über Stefanie Stahl:

Stefanie Stahl lebt und arbeitet als Psychotherapeutin und Autorin in freier Praxis in Trier. Neben ihren Büchern zur Bindungsangst Jein! und Vom Jein zum Ja hat sie mit Jeder ist beziehungsfähig zeigt sie auf, wie Beziehungen gelingen können und gibt den Leser*innen hilfreiche Aufgaben an die Hand.

Darüber hinaus hat sie vielfach zum Thema »Selbstwert« geschrieben. Ihr wohl bekanntestes Buch ist Das Kind in dir muss Heimat (+Arbeitsbuch), das sich bereits seit Jahre auf den vorderen Plätzen der SPIEGEL-Bestsellerliste befindet. Hier lädt sie die Leser*inne ein, Freundschaft mit ihren inneren „Schattenkind“ zu schließen und das „Sonnenkind“ zu stärken. Ein absolut empfehlenswertes Buch für jede*, die* belastende negative Glaubenssätze und Schutzstrategien aufspüren und „umprogrammieren und so zu ihrem freudigen und starken Wesenskern zurückfinden möchte.

Ergänzend zu ihren Büchern bietet die Autorin Online-Kurse an wie beispielsweise „Jeder ist beziehungsfähig“. Darin begleitet sie dich per Videos und Arbeitsblättern durch den eigenen Prozess der Selbsterkenntnis und Veränderung. Der Kurs hilft dir auch, deinen Selbstwert zu stärken und die richtige Balance zwischen Anpassung und Selbstbehauptung zu finden. Neben der Basis- gibt es auch einen begleitetet Kursvariante. Hier hast du die Möglichkeit, dich persönlich von Stefanie Stahl coachen zu lassen. Zur Anmeldung geht es hier entlang. Auf sinnsucher.de kannst du übrigens auch den kostenlosen Persönlichkeitstest von Stefanie Stahl machen.

© Roswitha Kaster

Darüber hinaus hält die Autorin regelmäßig Vorträge und spricht in ihrem Podcast „So bin ich eben“ zusammen mit Moderator Lukas Klaschinsk über psychologische Themen und beantwortet Hörer*innenfragen. Seit dem 20. Januar gibt sie mit ihrem neuen Format „Stahl aber herzlich“ Einblicke in ihre Arbeit als Therapeutin und behandelt in jeder Folge ein spezifisches Problem mit echten Klient*innen.

 

Interview und Text Juliane Rump Beitragstitelbild BRIX & MAAS PHOTOGRAPHY

Mach 2021 zu deinem Jahr: Dieser Beitrag ist Teil der LIBERTINE Self Care & Inner Bonding Weeks. Alle Infos und Artikel findest du hier.