KAPITEL
Amparo Sánchez Pressephoto 1 Photo Credit Rakel López (1)

„Wenn wir die geschlechtsspezifische Gewalt beenden wollen, müssen wir sie klar thematisieren und von allen Seiten betrachten“

Amparo Sánchez hat in Spanien nahezu Kultstatus. Sie ist eine der einflussreichsten Musiker*innen der letzten zwanzig Jahre und gehört zu den wichtigsten Vertreter*innen der Mestizo-Musikszene. Und sie ist Frauenrechtlerin. Bereits 2014, mit Mitte vierzig, erzählte sie in ihrem autobiografischen Buch „La Niña y el Lobo“ zum ersten Mal von ihrer Jugend, die bestimmt war durch Gewalt und Drogen. 2020 ist ihr gleichnamiges Album dazu erschienen. Die Radiojournalistin Camilla Hildebrandt hat sich mit Amparo über Emanzipation, gewalttätige Beziehungen und Musik als Empowerment unterhalten.

Camilla Hildebrandt: Amparo, als Jugendliche hast du dich in einen älteren Musiker verliebt. Er hat dir die Welt des Rock and Roll eröffnet, mit ihm standst du als Sängerin auf der Bühne. Eine Zeit, die dich maßgeblich geprägt hat und von Drogen, Alkohol und Gewalt-Exzesse gekennzeichnet war. Mit 15 wurdest du schwanger, hast das Kind behalten und deinen Partner später geheiratet. In deinem Buch schreibst du: „Für die nächsten zehn Jahre litt ich unter Einschüchterung, häuslicher Gewalt und Angst.“ Wie hat die Gesellschaft 2014 auf diese Offenbarungen reagiert?

Amparo Sánchez: Die Situation war sehr unangenehm. Auch wenn wir wissen, dass es notwendig ist, über häusliche Gewalt zu sprechen, fühlten sich vor allem männliche Journalisten sehr unwohl dabei. Bei Journalistinnen war das weniger der Fall. Sie waren dankbar, dass ich den Mut hatte, meine Geschichte zu erzählen. Mein Ziel war und ist sehr klar: Ich will mit diesem Buch anderen Frauen helfen, die sich in ähnlichen Situationen befinden. Es ist ein Thema, über das gesprochen werden muss. Denn wenn wir die geschlechtsspezifische Gewalt eines Tages beenden wollen, müssen wir sie klar thematisieren und von allen Seiten betrachten. Mein Buch „Das Mädchen und der Wolf“ ist die klare Bekräftigung der Überwindung und Befreiung: Selbst wenn dir so etwas passiert, kannst du da rauskommen.

CH: In dem Buch geht es darum, die Erlebnisse der Frauen bekannt zu machen, Frauen zu stärken und ihnen die Hand zu reichen. Amparo, du engagierst dich allerdings schon dein Leben lang für Frauenrechte.

AS: Ja, das stimmt. Außerdem bin ich die Chefin meines eigenen Projektes. Ich habe mein eigenes Plattenlabel, ich bin die Künstlerin. Um das zu realisieren, musste ich jedoch mit meinem Glauben brechen, dass Männer die Macht haben und wir Frauen entsprechend hilflos sind. Das habe ich lange Zeit geglaubt. Jetzt arbeite ich permanent daran, diese Überzeugung umzuwandeln. Denn gerade bei der Thematik geschlechtsspezifische Gewalt, sind wir Frauen wichtig. Denn wir sind auch Protagonistinnen. Aufgrund diesen seltsamen Vorstellungen von romantischer Liebe und des tief in uns verwurzelten Verständnis, dass jemand, der dich liebt, dich leiden lässt, nehmen wir Beziehungen in Kauf, die nicht gut für uns sind. Es gibt Menschen, die ihre Beziehung bereits beim ersten Anzeichen der Gewalt abbrechen. Aber viele können das nicht. Ich war damals sehr jung, aber das passiert in allen Altersstufen. Viele Frauen glauben, dass der Andere sich ändern wird, wenn man nur durchhält. Den jungen Mädchen sage ich zum Beispiel immer in meinen Seminaren, dass sie auf erste Anzeichen achten sollen. Man kann früh erkennen, ob eine Beziehung toxisch ist und in Gewalt enden kann. Die ersten Anzeichen sind oft, dass der Partner die Frau von ihren Freund*innen und der Familie isolieren will. Da ist dieser massive Besitzanspruch. Und viele Frauen lassen zu, dass sie besessen werden.

CH: Es existiert seitens der Frauen immer noch eine Art Verherrlichung der Männer. Hierzu passt das erste Lied auf deiner gleichnamigen CD „Das Mädchen und der Wolf“ sehr gut: „Adoro“ – „Ich verehre“. Es stammt von dem Mexikaner Armando Manzanero, der im Dezember 2020 verstorben ist. Ich habe diese doppelte Lesart, wie du sie siehst, in diesem Song nie wahrgenommen.

AS: In dem Lied geht es um das Verliebt-Sein. Wenn wir uns verlieben, lieben wir alles an der anderen Person. Aber in dieser Phase kann es auch schon Anzeichen geben, die wir nicht sehen wollen. In „Adoro“ gibt es eine Zeile, die besagt, dass „selbst wenn du mich scheltest, ich dich, mein Leben, anbete“. In diesem Satz kann man schon ahnen, was als Nächstes passiert. Ich meine, in einer Liebesbeziehung muss man nicht kämpfen und den Anderen zurechtweisen, sondern die Themen müssen besprochen werden, Standpunkte mit Liebe und Respekt geäußert werden. Aber dann kommt bei vielen etwas aus unserer Erziehung hoch: Es ist doch zu nur zu unserem Besten. Es gibt immer noch Familien, die mit Gewalt gegenüber ihren Kindern agieren und dann sagen, es sei nur zu ihrem Besten. In meinem Buch habe ich auch noch einmal hervorgehoben, dass ich damals sehr verliebt in diese Person war, die mich so leiden ließ.

CH: Als wir uns 2017 das letzte Mal trafen, sagtest du, dass es in Spanien eine rückläufige Tendenz in der Emanzipation gibt, dass junge Frauen ihren Platz als Hausfrauen wieder akzeptieren. Wie ist das heute? Ist es die Bildung, die versagt hat?

AS: Viele junge Mädchen haben mir erzählt, dass ihre Mütter nach der Trennung vom Vater ihr Leben lang gearbeitet haben. Die Kinder waren alleine, ihnen fehlten die Eltern sehr. Deshalb wollen diese jungen Frauen nicht denselben Weg einschlagen. Und wenn ich meine Karriere aufgeben muss, sagen sie, werde ich es tun, weil ich meine Familie nicht im Stich lassen will. Das müssen wir dringend bearbeiten. Heute geht es darum, eine Balance zu finden, Berufsleben und Privatleben miteinander zu verbinden, ohne die Familie als einen Käfig zu empfinden, als entweder oder.
Ich war so eine junge Mutter, ich wollte und musste arbeiten und Mutter sein, gleichzeitig gab es diesen Wunsch, als Sängerin durchzustarten. Die Wahrheit ist, dass ich das Gefühl hatte, dass alles in meinem Leben zur gleichen Zeit passierte. Es war sehr hart. Aber ich hatte das große Glück einem Beruf zu haben, den ich liebe.

CH: Von der Beziehung als Käfig oder Gefängnis erzählt der Song „Mala vida“ – „Schlechtes Leben“. „Du lässt mich nicht atmen“, heißt es in einer Liedzeile. Ein Song von Manu Chao.

AS: Ja, es handelt von der Situation, wenn der Andere dir das Leben zur Hölle macht, dich kontrolliert, dich isolieren will. Aber das Lied gefällt mir auch, weil es einen Moment gibt, in dem ich der Situation entfliehen werde. Davon handelt „Mala vida“, von der Rebellion. Ich erkenne die Situation und rebelliere.

CH: Für die CD hast du zehn Lieder ausgewählt, die musikalisch erzählen, was du damals erlebt hast. Neun Stücke stammen von anderen Bands, Lieder, die du damals gehört hast.  Ein Song stammt von dir, “Veneno“ – „Gift“. Die Aufnahme sei ein Akt der absoluten Entblößung gewesen, sagst du, nur zwei Gitarren und Stimme.

AS: Für mich war es eine Art Therapie und Anerkennung, Anerkennung und Vergebung für alles, was geschehen ist. Aber zweifellos bringt uns die Musik zu uns selbst und nimmt uns mit auf eine Reise. Alle Lieder, die ich ausgewählt habe, stehen für etwas Besonderes, für die damalige Zeit. Zum Beispiel „Han caído al suelo“ – „Sie sind zu Boden gegangen“ von der Band Radio Futura. Mein damaliger Partner meinte, das Lied würde uns beschreiben: Sie sind beide wie erschlagene Soldaten zu Boden gegangen und jetzt sind sie gefangen im selben Gefängnis. Und haben einen Krieg begonnen, den niemand je gewinnen kann.“
Die Texte sind sehr stark. Ja, und ich habe das Gitarren- und Gesangsformat gewählt, weil ich meine tiefste Cantautora-Seite herausholen wollte. Aufgenommen haben wir das Album in Granada.

CH: In der Stadt, die du als junge Frau zusammen mit deinem damals kleinen Sohn verlassen hast, um ein neues Leben zu beginnen.

AS: Vor einem Jahr bin ich hierher zurückgekehrt, vor allem wegen meiner Mutter, die kurz darauf starb. Mir war ehrlich gesagt vorher gar nicht bewusst, wie sehr mir Granada gefehlt hatte. Unsere Gewohnheiten, die Art und Weise, wie wir essen, reden, Beziehungen eingehen, der Witz, der Humor, all das trage ich in mir. Hier habe ich die CD aufgenommen, mit dem Flamenco in der Musik. Ja, und nur ein Lied stammt von mir: „Veneno“ – „Gift“. Ich habe es damals in Bezug auf die Drogen komponiert. Denn letztendlich waren sie der Grund, der uns auseinanderbrachte.

AS: Das Buch und die CD sind ein Art Empowerment der Frauen, sagst du. Aber ist es nicht auch ein Aufruf zur Veränderung der Gesellschaft? Dass sich sowohl Männer als auch Frauen in der Gesellschaft neu definieren müssen?

AS: In der Tat gibt es viele Männer, die das Buch gelesen haben. Und es ist sehr interessant, ihnen zuzuhören. Denn viele Männer, die nicht gewalttätig sind, denken, dass dies nur bei Paaren geschieht, die marginalisiert sind, entwurzelt, kulturlos. Ein Klischee. Und es ist sehr erstaunlich, wenn sie dann erkennen, dass die einzige Bedingung für geschlechtsspezifische Gewalt die Tatsache ist, eine Frau zu sein.

CH: Amparo, du hast zwei Söhne, was hast du bei ihrer Erziehung anders gemacht?

AS: Ja, ich habe zwei Jungs. Und jetzt, wo wir drei zusammen während des Lockdowns zu Hause waren, haben wir uns die Aufgaben geteilt, sodass jede*r von uns Zeit für sich hatte. Ich bin sehr stolz auf diese Kinder, meine erwachsenen Männer. Ich habe damals sehr viel Wert daraufgelegt, dass sie weinen durften, wenn sie traurig waren, dass sie sich ihre Sensibilität erlauben und dass ihnen niemand sagen durfte, wie sie sein sollten oder wie sie nicht sein sollten.

CH: Amparo, deine CD endet mit dem weltberühmten Song der Chilenin Violeta Parra „Gracias a la vida“ – „Danke an das Leben“.

AS: Ich wollte das Album mit diesem Lied beenden. Denn das Ziel des Buches und der CD ist es, zu zeigen, dass Überwindung notwendig und möglich ist. Es ist eine Danksagung an das Leben. Ohne diese Beziehung damals gäbe es meinen ältesten Sohn nicht. Er ist mein Leben, mein Begleiter, wir arbeiten zusammen. Es ist eine Danksagung an die Musik, die meine Art ist, mich auszudrücken, zu kommunizieren, über mich selbst hinauszuwachsen. Das Album endet mit Dankbarkeit, denn ich bin dankbar für die Dinge, die mir passiert sind, für die Frau, die ich bin.

CH: Vielen Dank für das Gespräch, Amparo.

Fotos Rakel López