KAPITEL
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„Wir wollen das System ändern, nicht die Frauen!“

Die Arbeitswelt verändert sich rasant, angetrieben durch technologischen Fortschritt und Globalisierung. Es ist beinahe unmöglich geworden, damit Schritt zu halten. Was wäre also, wenn man es gar nicht erst versucht? Diese Frage haben sich die Unternehmerinnen Naomi Ryland und Lisa Jaspers gestellt. In ihrem Buch „Starting a Revolution“ geben sie Antworten.

Die beiden Macher*innen dürften vielen bekannt sein: Naomi gehört zu den Gründer*innen von tbd*, einer Karriereplattform für nachhaltige und soziale Jobs, und Lisa bietet mit ihrem Label Folkdays Fair-Trade-Fashion und Design. Die beiden Freundinnen wollen die Arbeitswelt nicht nur grundlegend verändern – sondern sie am liebsten ganz abschaffen. Wie das gehen soll, darüber schreiben sie in Starting A Revolution. Was wir von Unternehmerinnen über die Zukunft der Arbeitswelt lernen können. Das Buch wurde 2019 durch eine Crowdfunding-Kampagne ermöglicht und erschien zunächst in englischer Sprache. Jetzt veröffentlicht der Econ Verlag die deutsche Übersetzung. Naomi und Lisa haben nach radikalen Alternativen zum aktuellen System gesucht – und sie auch gefunden. Sie zeigen, dass ein Kulturwandel in Unternehmen möglich ist. Im Interview erzählen sie, warum das übliche Business-Denken sie unglücklich gemacht hat und was sie unter „feminist leadership“ verstehen.

Julia Korbik: Wie ist die Idee entstanden, ein Buch über die Zukunft der Arbeitswelt zu schreiben?

Naomi: Wir haben beide die Erfahrung gemacht, dass man als Gründer*in sehr viel weniger Gestaltungsmacht hat, als man erwarten würde. Wir wollten es anders machen – und haben dabei gemerkt, dass es an Vorbildern und Möglichkeiten mangelt. Ob auf Konferenzen oder in Business-Büchern, immer hieß es: Gründen geht nur mit Investitionen, Konkurrenzdenken, Druck und schnellem Wachstum. Als Manager*in soll man immer alle Antworten haben, seine professionelle Distanz wahren und keine Schwäche zeigen. Lisa und mich hat das alles aber eher unglücklich gemacht. Wir haben beide kleine Unternehmen, und das sehr bewusst – schnelles Wachstum ist oft nicht nachhaltig und geht auf Kosten anderer.

Julia: Inwiefern?

Naomi: In der Startup-Branche wird einem vermittelt, man brauche Risikokapital, um ein erfolgreiches Unternehmen aufzubauen. Das führt dazu, dass man sich auf den Shareholder Value konzentriert und auf schnelles Wachstum. So liegt die Entscheidungsmacht bei den Investor*innen. Aber muss das so sein? Nein. Warum sollten nicht die Menschen, die den Wert im Unternehmen schaffen, also die Mitarbeiter*innen, mitentscheiden können?

Lisa: Leider werden Mitarbeiter*innen oft nur als Mittel zum Zweck gesehen. Der von ihnen geschaffene Mehrwert führt letztendlich zum Reichtum einer kleinen Gruppe von Menschen. Siehe Facebook, Google… Ich selbst hatte diese Vorstellung total internalisiert und dachte, so ist es eben. Aber so muss es nicht sein!

Julia: Wie habt ihr gemerkt, dass das bestehende System für euch so nicht mehr funktioniert?

Lisa: Ich habe mir zunehmend Fragen gestellt wie: Was ist gute Arbeit? Was bedeutet Erfolg für mich überhaupt? Ich kämpfe immer noch damit, dass ich dieses Bild vom „hustle“ im Kopf habe: Wenn ich nicht an meine Grenzen gehe, fühlt es sich an, als würde ich nicht hart genug arbeiten. Heute Morgen beispielsweise habe ich bewusst beschlossen, nicht sofort mit der Arbeit anzufangen, sondern mich mit einem Kaffee rauszusetzen. Und sofort war da das schlechte Gewissen. Ich merke, dass ich dazu tendiere, die Bedürfnisse anderer zu priorisieren. Ich merke, dass ich oft die Bedürfnisse aller über meine eigenen priorisieren. Das ist weder gut für mich, noch für alle anderen, denn damit bin ich kein gutes Vorbild für mein Team.

Julia: Seit dem Erfolg von Sheryl Sandbergs Ratgeber Lean In gibt es eine Flut von Business-Ratgebern, die sich an Frauen richtet und ihnen beibringen will, wie sie sich im bestehenden System durchsetzen. Was macht euer Buch anders?

Naomi: Starting a Revolution ist kein Ratgeber, der Frauen verbessern will. Wir wollen das System ändern, nicht die Frauen.

Lisa: Wir beide haben lange damit zugebracht, den Fuß in die Tür zu bekommen. Nur, um dann zu merken, wie menschenunfreundlich dieses System eigentlich ist. Deshalb wollen wir gar nicht so sein wie die typische Frau in einer Führungsposition und haben für unser Buch bewusst nach Unternehmerinnen gesucht, die ausgestiegen sind und ihr eigenes Ding machen, zum Beispiel die Software-Unternehmerin Stephanie Shirley oder Catherine Mahugu, Gründerin eines afrikanischen Schmuck-Startups.

Julia: Diese Frauen nennt ihr eure „Revolutionärinnen“: Frauen, die sehr erfolgreich sind, und das, obwohl – oder gerade weil – sie konventionelle Business-Weisheiten auf den Kopf gestellt haben.

Naomi: In der Wirtschaft gibt es zwar viele weibliche Vorbilder, diese repräsentieren aber häufig ein doch eher traditionelles Bild von Führung und Arbeit. Die sieben Unternehmer*innen, mit denen wir für das Buch gesprochen haben, zeigen hingegen, dass Frauen bereits ganz neue, innovative Ideen haben. Und diese neuen Perspektiven gilt es in den Diskurs zu holen. Dabei geht es Lisa und mir aber weniger um „female leadership“ als vielmehr um „feminist leadership“. Die Prinzipien dahinter sind: Selbstreflektion, Selbstführung – die Idee, sich selbst zu führen, bevor man andere führt – Machtteilung, Zusammenarbeit, Transparenz, Sinnhaftigkeit und Verantwortung. Dabei geht es nicht darum, weiße Frauen in den Vordergrund zu stellen, sondern Machtverhältnisse so zu ändern, dass alle profitieren.

Julia: A propos Machtverhältnisse: Viele Unternehmen sind immer noch hierarchisch organisiert. Welche Alternativen zu dieser „Top-down“-Unternehmensführung gibt es?

Naomi: Zum Beispiel Selbstorganisation. Ich habe mit meinem Unternehmen eine solche Transformation durchgemacht. Das war zwar eine echte Herausforderung, aber auch sehr bereichernd. Wir arbeiten effektiver und sind vor allem viel näher an unseren „Sinn“ dran. Jede*r muss sich einbringen und Entscheidungen treffen. So können Mitarbeiter*innen zu mir sagen: Naomi, deine Idee ist total schlecht! Hierarchien gibt es zwar schon noch, aber keine Person, die Macht über alle hat. Das System ist stärkenorientiert: Im besten Fall arbeitet man in dem Bereich, in dem man sich wohlfühlt. Das bedeutet aber auch, dass man seine Stärken herausarbeiten und sich mit seinen Schwächen konfrontieren muss. Das ist nicht leicht.

Julia: Lisa, wie sieht es in deinem Unternehmen aus?

Lisa: Bei Folkdays geht es etwas traditioneller zu als bei Naomi. Aber am Ende geht es darum, einen Ort zu schaffen, an den alle gerne kommen. Ein wichtiges Learning aus dem Buch ist, dass die Struktur weniger wichtig ist als die Kultur. Egal, welche Hierarchie man hat: Die Arbeitsatmosphäre muss stimmen.

Julia: Welche Fehler habt ihr selbst als Chefinnen gemacht – und was habt ihr daraus gelernt?

Naomi: (lacht) Ich glaube, alle Fehler, die wir gemacht haben, stehen im Buch! Für mich war ein großer Konflikt das Thema professionelle Distanz. Ich dachte, ich als Chefin muss mich auf eine bestimmte Art verhalten und ich dürfte mich nicht als ganzer Mensch zeigen.

Lisa: Ich war davon überzeugt, dass ohne Druck nichts läuft. Deshalb habe ich mir zum Beispiel keine Zeit für Smalltalk genommen, wollte immer produktiv sein. Als ich einmal mit einem befreundeten Unternehmer über Unternehmensführung sprach, sagte der: Deinen Mitarbeiter*innen geht es zu gut, die haben keinen „sense of urgency“. Aber braucht es den überhaupt? Ich selbst habe gemerkt, dass ich dann am produktivsten arbeite, wenn es mir gut geht. Und nicht, wenn ich total unter Druck stehe.

Julia: Ihr plädiert dafür, auch als Führungskraft Emotionen zuzulassen und Verletzlichkeit zu zeigen. Aber besteht dann nicht die Gefahr, dass gerade Frauen die Führungsstärke abgesprochen wird?

Naomi: Emotionen zu zeigen ist sowohl für Männer als auch für Frauen schwierig aber sollte bei allen gefördert werden. Wir sind letztendlich Menschen – auch im Büro! Eine Entwicklung hin zu mehr Verletzlichkeit ist aber nichts, was von heute auf morgen passiert. Das dauert Jahre – und selbst dann kriegt man es nicht immer zu hundert Prozent hin. Es ist ein Prozess. Da geht es ja schließlich nicht nur um die eigene Sozialisierung, sondern auch um die der anderen. Deshalb braucht es Coachings, einzeln und im Team, und vielleicht auch Therapie. Es geht darum, Fragen zu stellen: Was passiert gerade? Warum reagiere ich so? Wie kann ich besser kommunizieren?

Lisa: Ich hatte in den letzten Monaten ein paar Situationen, in denen ich dachte: Ein Chef, eine Chefin? würde das jetzt so machen… Stattdessen habe ich mich total geöffnet und gesagt: So geht es mir, ich habe Angst, ich bin gestresst. Und meine Mitarbeiter*innen sagten: Das Gefühl kennen wir total gut. In dem Moment, in dem du dich mitteilst und beschreibst, wie es dir geht, gibst du anderen Menschen die Möglichkeit, sich ebenfalls zu öffnen.

Julia: Ein Thema ist natürlich auch die Vereinbarkeit von Familie und Karriere. Ihr plädiert für die Vermischung von Arbeits- und Privatleben. Das finde ich interessant, denn momentan gibt es ja eigentlich eher den Trend zu einer klaren Grenze zwischen Arbeit und Freizeit.

Lisa: Das ist ein schwieriger Punkt, weil Menschen sehr unterschiedlich ticken. Aber grundsätzlich gilt: Nur weil man keine harten Grenzen hat, bedeutet das nicht, dass es keine Regeln gibt. Ich habe zum Beispiel die Regel, im Urlaub keine Mails zu checken und abends, wenn ich Zeit mit meinen beiden Kindern verbringe, nicht aufs Handy zu schauen. Mir geht es darum, dass Menschen nicht das Gefühl haben sollten, Grenzen ziehen zu müssen, weil sie im Job so unglücklich sind. Viele Menschen spalten ihr Leben in mehrere Teile auf und versuchen, den Teil „Job“ so klein wie möglich zu halten. Stattdessen müsste man sich die Frage stellen: Wenn ich so viel Zeit an einem Ort verbringe, der mich unglücklich macht – warum mache ich das? Sein Berufsleben in eine Box zu stecken und sie nur aufzumachen, wenn man am Arbeitsplatz angekommen ist – das kann es nicht sein.

Julia: Ihr wollt einen radikalen Systemwechsel. Aber braucht es für eine Veränderung der Arbeitskultur nicht doch so etwas wie strukturellen Wandel? Reichen individuelle Veränderungen und Handlungen wirklich aus?

Naomi: Nein, da muss sich grundlegend etwas ändern. Aber darauf können wir nicht warten! Man muss Beispiele aufzeigen, wie es aussehen könnte. Und diese Beispiele müssen dann zum Mainstream werden, statt nur in der Nische zu bleiben, wo sie nicht wahrgenommen werden.

Lisa: Lange habe ich die Haltung befürwortet, dass man das System, so wie es ist, nutzen muss. Aber mittlerweile habe ich gemerkt: Das geht nicht, denn das System ist kaputt. Da darf man sich nichts vormachen.

Naomi Ryland und Lisa Jaspers: Starting A Revolution. Was wir von Unternehmerinnen über die Zukunft der Arbeitswelt lernen können, Econ Verlag, 18 Euro.

Interview: Julia Korbik