Mehr Frau. Mehr Kooperation?
David Cameron wollte nicht. Boris Johnson auch nicht. Nigel Farage sowieso nicht. Angela Leadsom wollte erst, dann doch nicht. Und Michael Gove darf nicht. Bleibt nur noch Theresa May. Fest steht also: Der nächste britische Premierminister wird eine Frau – und die muss dann mit der EU Großbritanniens Austritt aus der EU verhandeln. Keine leichte Aufgabe: Die politische und gesellschaftliche Stimmung im Vereinten Königreich ist angespannt, um es milde auszudrücken. Großbritannien befindet sich mitten in einer veritablen politischen Krise.
Und die soll jetzt eine Frau lösen. Es ist in der Politik nicht das erste Mal, dass Frauen dann zur Hilfe gerufen werden, wenn Männer versagt haben. Christine Lagarde wurde Chefin des Internationalen Währungsfonds (IWF), nachdem ihr Vorgänger Dominique Strauss-Kahn sich durch die Vergewaltigungsvorwürfe einer New Yorker Hotelangestellten selbst ins Abseits katapultiert hatte. Angela Merkel begann auch deshalb ihren Aufstieg zur Kanzlerin, weil die CDU-Herren tief im Spendenskandal steckten. Die litauische Präsidentin Dalia Grybauskaitė kam durch die Finanzkrise zum Zug, genauso wie die ehemalige isländische Ministerpräsidentin Jóhanna Sigurðardóttir.
Das wirft natürlich Fragen auf: Sind Politikerinnen besser darin als ihre männlichen Kollegen, in Krisenzeiten zu operieren? Ist ihr Politikstil anders, weiblicher? Schwer zu sagen. Da Politikerinnen in Top-Positionen eben immer noch eher die Ausnahme als die Regel sind, gibt es kaum langfristige Studien, wie sich eine Kanzlerin, eine Präsidentin oder eine Premierministerin auf die Politik und die politische Kultur ihres Landes auswirkt.
Über Angela Merkel heißt es in der ZEIT vom 16. Juni, sie habe die weibliche Politik „erfunden“. Zum Beispiel, indem sie sich mit Beratern umgebe, die zum größten Teil Frauen oder „minimalinvasive Männer“ seien. Den Begriff „minimalinvasive Männer“, der einst von Kanzleramtschef Peter Altmaier geprägt wurde, meint Männer, die kein großes Getöse machen, keine Alpha-Männchen sind. Der beste Beweis für diese „weibliche Politik“, so heißt es in der ZEIT weiter, sei die Ukraine-Krise: „Da hat sich ein klassischer Macho die Krim einverleibt (…). Angela Merkel hat dann eine eigene, weiblich-europäische Methode gewählt, um Wladimir Putin zu stoppen: reden, reden, reden, ungerührt sein (…).“
Dass gerade Merkel als Vertreterin einer weiblichen Politik gilt, ist erstaunlich. Schließlich hatte die Kanzlerin sich immer wieder – vor allem zu Beginn ihrer Amtszeit – von ihrem Frausein distanziert. Sie betonte, ihr Hintergrund als Naturwissenschaftlerin und Ostdeutsche sei viel wichtiger als ihr Geschlecht. Merkel macht nicht als Frau Politik, sondern sie ist unter anderem eine Frau, die Politik macht. Aber es gibt auch Gegenbeispiele: Die chilenische Präsidentin Michelle Bachelet thematisiert offen ihre Erfahrungen als Frau und setzt sich für Geschlechtergerechtigkeit ein. Dasselbe gilt für die ehemalige norwegische Ministerpräsidentin Gro Harlem Brundtland: Ihre Regierung wurde weltweit bekannt, weil sie aus acht Frauen und zehn Männern bestand – eine fast paritätische Besetzung.
Das zeigt: Es gibt so viele Führungsstile, wie es auch Politikerinnen gibt. Und trotzdem: Ist es wirklich purer Zufall, dass Frauen gerade in Krisensituationen an die Spitze gelangen? Hat es nicht doch etwas damit zu tun, dass sie anders Politik machen und so positive Veränderungen für die Gesellschaft bewirken? Den Autoren des Buches The Athena Doctrine (2013), John Gerzema und Michael D’Antonio, zufolge, sind 65 Prozent der Menschen weltweit der Meinung, dass mehr weibliche Führung in Regierungen zu mehr Vertrauen und Gerechtigkeit sowie zu weniger Kriegen und Skandalen führen würde. Die konservative britische Abgeordnete Lady Jenkin of Kennington glaubt, in „Zeiten des Aufruhrs“ seien Frauen „praktischer und ein bisschen weniger testosterongetrieben in ihrem Vorgehen“, außerdem willig, sich verschiedene Meinungen zu einem Thema anzuhören. Als Beispiel könnte hier Jóhanna Sigurðardóttir gelten, die Island ab 2009 durch die Finanzkrise führen musste. Um das Vertrauen der Bevölkerung zurückzugewinnen, rief sie einen aufwändigen Prozess ins Leben. Das Ziel: eine neue Verfassung, an der die Bevölkerung mitarbeitet – laut den Autoren von The Athena Doctrine eine „klassisch weibliche“ Antwort auf die Krise.
Vielleicht hat dieser vermeintlich unterschiedliche Stil aber auch etwas mit Erwartungen und Rollenbildern zu tun. In einer Studie des Pew Research Centers wurden 2014 US-amerikanische Bürgerinnen und Bürger danach befragt, ob Männer oder Frauen in öffentlichen Ämtern besser darin seien, bestimmte Leistungen zu bringen. Das Ergebnis: Frauen seien besser als Männer darin, Kompromisse auszuarbeiten, ehrlicher und moralischer, würden die Lebensqualität in den USA verbessern und für das einstehen, woran sie glaubten. Auch in anderen Studien zu Führungsqualitäten werden Frauen bestimmte Eigenschaften wie Kompromissbereitschaft oder Loyalität zugeschrieben, die typischen „soft skills“. Eine Kombination dieser Eigenschaften, davon sind die Befragten überzeugt, macht aus Menschen bessere Leader.
Von Politikerinnen wird, viel mehr als von ihren männlichen Kollegen, erwartet, dass sie sich für Gleichberechtigung einsetzen. Dass sie, weil sie selber Frauen sind, ein Interesse daran haben, die Gesellschaft für Frauen besser zu machen. In einer Studie von 1995 stellten amerikanische Soziologen in der Tat fest, dass mehr Frauen als Männer eine mitfühlende Gesellschaftspolitik unterstützen – ist das also der typische „weibliche“ Führungsstil, der Einsatz für Gleichberechtigung? Zumindest scheint dies ein entscheidendes Kriterium zu sein, an dem weibliche Führung gemessen wird. Der Führungsstil der ehemaligen argentinischen Präsidentin Christina Fernández de Kirchner galt auch deshalb als eher „macho“, weil sie sich kaum für Gleichberechtigungsthemen interessierte. Ein anderes Beispiel ist die „Eiserne Lady“ Margaret Thatcher. Fernández de Kirchner und Thatcher zeigen, dass sich, nur weil eine Frau politisch das Sagen hat, nicht unbedingt etwas für Frauen allgemein verbessert.
Trotzdem weisen US-amerikanische Studien darauf hin, dass sich tatsächlich etwas ändern könnte, wenn mehr Frauen politische Führungspositionen übernähmen. Sie zeigen, dass Politikerinnen auf bundesstaatlicher Ebene kooperativer sind als Politiker: Sie sind interessierter daran, Koalitionen zu schließen – im polarisierten US-Politiksystem nicht unbedingt die schlechteste Eigenschaft. Sarah Anzia von der Stanford Universität und Christopher Berry von der Chicagoer Universität fanden in einer anderen Studie heraus, dass von Frauen regierte Distrikte gegenüber den von Männern regierten im Vorteil sind: Weibliche Kongressabgeordnete treiben im Schnitt 9 Prozent mehr Gelder für ihre Distrikte ein – das sind jährlich 49 Millionen US-Dollar. Der Politikwissenschaftler Arend Lijphart stellte in seinem Buch Patterns of Democracy Zusammenhänge fest zwischen einer höheren Zahl von Gesetzgeberinnen und einer höheren Zahl von progressiven Politikmaßnahmen im Bereich Umwelt, Familie und Inhaftierung. Weltweite Studien zeigen, dass ethnisch vielfältige Länder wirtschaftlich besser abschneiden, wenn sie die nationalen Schlüssel-Führungspositionen mit Frauen besetzen – das Bruttoinlandsprodukt stieg um 6.8 Prozent im Vergleich zu dem von ethnisch vielfältigen Nationen, die von Männern geführt wurden.
Tatsache ist: Das derzeitige politische System ist, zumindest in der westlichen Welt, männlich geprägt. Weil Spitzenpolitikerinnen dort die Ausnahmen sind, machen sie schon allein durch ihre Anwesenheit einen Unterschied – sie haben eine starke symbolische Wirkung. Die erhöhte Sichtbarkeit von Frauen trägt, so die Theorie, zum Wandel der Geschlechterverhältnisse bei. Es geht um Rollenbilder, um die Erkenntnis: Wenn die das kann, dann kann ich das vielleicht auch. Außerdem werden durch die Repräsentanz von Frauen im männlichen codierten Raum der Politik bestimmte Codes und Normen überhaupt erst sichtbar – und können nun diskutiert und verhandelt werden.
Das Potenzial, durch mehr Politikerinnen in Führungspositionen die Gesellschaft zu verändern, ist also durchaus da. Die Politikwissenschaftlerin Barbara Stiegler weist allerdings auf zwei wichtige Voraussetzungen hin, die, soll sich speziell in Sachen Gleichberechtigung etwas ändern, erfüllt sein müssen: Geschlechterpolitische Wirkungen, so Stiegler, seien erstens nur dann zu erwarten, wenn die Frau an der Spitze selbst z.B. Diskriminierung aufgrund ihres Geschlechts erlebt habe und diese Erfahrung nicht als rein persönliche abtue, sondern dahinter ein gesellschaftliches Muster erkenne und ihr eine politische Deutung gebe. Zweitens müsse diese Frau eine programmatische Einbettung der Geschlechterfrage innerhalb einer Partei haben, die für die Veränderung der Geschlechterverhältnisse stehe.
Vielleicht ist die Person, die momentan die „weiblichste“ Politik macht, tatsächlich ein Mann – und zwar der kanadische Premierminister Justin Trudeau. Er besetzte sein Kabinett zur Hälfte mit Frauen und Männern, darunter viele VertreterInnen von Minderheiten, wie z.B. ein Sikh und eine indigene Kanadierin. Trudeau nahm am diesjährigen Gay Pride teil und setzt sich für Gleichstellungsthemen ein. Ist das nun „weiblich“? Möglicherweise. Fest steht auf jeden Fall: Trudeaus offener, inklusiver und diskurs-orientierter Politikstil bricht mit dem seines Vorgängers Stephen Harper und hat eine Welle der Euphorie ausgelöst. Ob sich Kanada dadurch tatsächlich nachhaltig verändert, wird sich erst in ein paar Jahren zeigen. Der Vorteil des kanadischen Premiers ist natürlich, dass er ein Mann ist: Der Druck, der männlichen Politikwelt seine Fähigkeit zu beweisen, ist weitaus geringer als bei Margaret Thatcher damals oder Angela Merkel heute. Bei Politikerinnen geht es immer noch viel zu oft darum, zu zeigen, dass sie in der Lage sind, Politik zu machen, obwohl sie Frauen sind.
Letztendlich können Politikerinnen in der Gesellschaft nur dann etwas verändern, wenn sie eine kritische Masse bilden. Michelle Bachelet pflegt zu sagen: „Kommt eine Frau alleine an die Macht, so verändert sich die Frau, gehen viele Frauen gemeinsam in die Politik, so verändert sich die Politik.“ Und damit auch die Gesellschaft. Denn der kann es nie schaden, wenn Politik in jeder Hinsicht genauso vielfältig wird wie sie selbst.
Text Julia Korbik Foto privat
Als Bloggerin, Journalistin, Buchautorin („Stand up“) sorgt Julia Korbik regelmäßig für frischen feministischen Stoff.
Mehr von Julia u.a. unter juliakorbik.tumblr.com, eaudebeauvoir.com und cafebabel.de