KAPITEL
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Angst, Hase! Wie Angst zu meiner Identität wurde

Ach, du Schreck – nicht schon wieder dieses Zittern, Schwitzen, Herzrasen, Schwindelgefühl. Angst ist die weltweit häufigste psychische Störung. Doch nach wie vor ist die Seelenkrankheit tabuisiert. Eine kurze Angst-Biografie und warum ich doch nie angstfrei sein wollte.

Die salzige Meeresluft tanzt spielerisch durch meine Haare, während mir die Luft zum Atmen wegbleibt. Es fühlt sich an, als würden meine Füße im warmen Sand versinken und ich unwiderruflich mit dem Erdboden verschmelzen. Alles dreht sich – vor allem mein Gedankenkarussell: „Was ist, wenn ich hier und jetzt zusammenbreche und uns niemand findet?“ Seit über fünf Kilometern wandern wir durch dänische Dünen. Ich bin 15 Jahre alt und nicht alleine unterwegs. Und zeitgleich spüre ich in diesem Moment pure, dunkle, absolute Einsamkeit. Ich kann nicht sprechen, versuche, mein hyperventilierendes Atmen zu regulieren. Einatmen. Ausatmen. Einatmen. Ausatmen. Es dauert einige Minuten, die sich anfühlen wie ein schwarzes Loch, in das ich falle, bis es mir möglich ist, mich wieder zu bewegen. Mir ist schlecht, ich übergebe mich. Kalter Schweiß rinnt meinen von der Sonne geküssten Nacken hinunter. Da ist sie. Die erste Panikattacke meines Lebens.

Plötzlich todunglücklich

Ich war schon immer eine eher vorsichtige, ängstliche Seele. Während meine Schwester fröhlich singend und mit den Händen in den Hüften forsch zum Spielplatz stapfte, hielt ich mich gerne im Hintergrund. Obwohl ich die Ältere bin. Über den Moment in Dänemark sprach ich mit niemandem und vergaß die Szene, irgendwie, schnell. Doch immer öfter holte mich die Angst in anderen Situationen ein. Ich blieb lieber zu Hause, ging nicht mehr mit den anderen in den Ferien zum Feiern, zog mich zurück. Als ich 17 Jahre alt war, verstarb ganz plötzlich mein Vater. Aus dem Nichts. Unter mir eröffnete sich ein höllischer Schlund, in den ich wie ein depressives Stück Lara-Fleisch reinfiel. Meine Mutter bestärkte mich glücklicherweise darin, eine Therapie zu beginnen. Mit 18 Jahren saß ich also das erste Mal bei einem Therapeuten. Schnell deckten wir neben der Trauer über den unbeschreiblich schmerzhaften Verlust meines Vaters auch meine Angststörung auf, die sich bestens mit einer sich anbahnenden Depression verschwistert hatte. Ich kam sechs Monate lang immer wieder in den muffigen, kahlen Raum, der zwar Besserung, aber nicht wirklich Heilung versprach. Ich lernte, die Angst zu verstehen, Angst-Kurven auszuhalten. Ich entwickelte Strategien. Zum Beispiel, immer ein kleines Tütchen Zitronensaft bei mir zu tragen. Weil ich Angst hatte, aus dem Nichts an meiner eigenen Spucke ersticken zu können. „Der Zitronensaft macht, dass ich Speichelfluss bekomme – und alles ist gut!“, bestärkte ich mich. Kleine Anpassungen – die mich endlich wieder flexibler machten. Ich schaffte meinen Führerschein, mein Abitur. Und zog mit frischen 20 aus, um mein Studium in einer anderen Stadt zu beginnen. Der Start in ein eigenes Leben – und der Beginn der schlimmsten Ängste, die mich jemals heimgesucht hatten.

Wenn du denkst, du musst an der Supermarktkasse sterben

Meine Uni-Zeit begann. Ich studierte Kunstgeschichte und Kulturanthropologie. Ich lernte tolle Frauen kennen, fand schnell Anschluss und entwickelte ein erstes eigenes Zuhausegefühl. Ich studierte an einer der größten Unis Deutschlands. 25.000 Student*innen schoben sich Tag für Tag durch die mittelkleine Großstadt. Mit der eigenen Verantwortung kamen erst ängstliche Gedanken, dann schleichend körperliche Angst. Ich musste in den Hörsälen am Rand sitzen, mied Studi-Partys und ging dann in die Bibliothek, wenn die wenigsten Menschen im Gebäude zu finden waren. Ich war beliebt und doch auch wieder einsam. Ich schleppte mich das eine oder andere Mal aus Pflichtgefühl zu WG-Partys. Mein Herz klopfte fest und laut, jedes Gespräch war anstrengend, weil ich mich eingeengt und zittrig fühlte. Das Hoch der Angst erlebte ich, als ich nach rund einem Jahr Studium im Supermarkt in einer langen Schlange stand und mich fühlte, als müsste ich gleich sterben. Ich ließ meinen Korb fallen und rannte einfach raus. Ich weinte bitterlich und wusste nicht, was ich tun sollte. Doch es wurde nur noch schlimmer.

Die Angst vor der Angst vor der Angst

Das Dramatische an Angststörungen kann sein, dass wir eine Angst vor der Angst entwickeln. Das passierte mir. Es bedeutet, dass wir die Symptome als Angst einordnen können – und zeitgleich so viel Angst vor ihnen haben, dass es uns nur noch mehr Angst macht. Ein Teufelskreislauf. Ich konnte nicht mehr alleine einkaufen, mein soziales Leben sank auf null. Eines Tages stieß ich durch Zufall auf Hypnose-Therapie und war dem gegenüber aufgeschlossen. Ich war zu dem Zeitpunkt nicht hoffnungslos. Zeitgleich wusste ich, dass meine Lebensqualität nur noch weiter zu sinken drohte. Es fühlte sich an, als sei ich mehr Angst als Lara. Wie ein grauer Schleier saß die Angst in meinem Nacken und übernahm die Kontrolle über all meine Entscheidungen.

Angst entsteht in unserer Amygdala. Ich liebe dieses Wort. Es klingt für mich wie eine griechische Göttin, die in weißen Gewändern durch hohe Tempel wandert. Doch ganz so romantisch ist es leider nicht. Bei Menschen, die unter Angststörungen leiden, ist die Amygdala besonders empfindlich. Jede*r von uns hat sicherlich schon von dem „Fight or Flight“-Modus gehört. Kämpfen oder fliehen. Unser Gehirn ist noch relativ urzeitlich und Angst ist eigentlich eine nützliche Emotion. Sie reguliert alle Abläufe im Körper runter und mobilisiert alle Kraft auf ein plötzliches Handeln. Doch unsere heutigen Ängste haben meist wenig mit den urzeitlichen, impulsiven Kräften der Angst zu tun.

1.000 Facetten

Es gibt nicht DIE eine Angst. Wir können Angst vor Krabbeltieren haben, vor Menschen, vor vollen Räumen. Wir tragen Traumata in uns. Manche sind so tief vergraben, dass wir uns nicht an sie erinnern können. Und Angst ist sogar vererbbar. Rund 20 % der Menschen leiden an einer Angststörung. Doch viel zu selten reden wir offen darüber. Und leider haben unsere Mitmenschen auch häufig zu wenig Mitgefühl. Weil sie nicht wissen, wie es sich anfühlt. Das Rauschen in den Ohren. Der Schwindel kurz vorm Zusammenbruch. Der Kontrollverlust. Und irgendwie auch der Hass auf einen selbst – weil es doch eigentlich nur eine blöde kleine Angst ist!

Mich fallen lassen und ankommen in meiner Angst

Ich habe die Hypnose-Therapie begonnen. In zwei Sitzungen haben wir in Kommunikation mit meinem Unterbewusstsein meine Panikattacke „überschrieben“. Mit positiven Emotionen. Das klingt abgedrehter, als es ist. Ich habe gelernt, meine Angst in ein Objekt zu visualisieren, sie anzunehmen. Hypnose ist im Diskurs leider oft verschrien und macht manchen Menschen sogar Furcht. Wir denken an Show-Hypnose und Freiwillige, die plötzlich wie ein Huhn rumhopsen oder so steif sind, dass sich andere Menschen auf sie stellen können, und sich danach an nichts erinnern können. Während einer therapeutischen Hypnose-Sitzung bist du voll klar und bei dir. Ich erinnere mich an jedes Wort, jeden Gedanken, jedes Gefühl. Es ist ein bisschen wie der Moment kurz vor dem Einschlafen. Dieses Stadium ist wichtig, weil Unter- und „Ober“bewusststein zusammenarbeiten und Blockaden so gelöst werden können.

Vor Kurzem bin ich 30 Jahre alt geworden. Und ich habe immer noch Angst. Zum Beispiel davor, dass ich einfach vor anderen Menschen zusammenbreche. Kurz vor meiner Periode habe ich oft mehr Angst als in den Wochen danach. Ich sitze immer noch nicht gerne im Kino in der Mitte und hasse es, Auto zu fahren. Und das ist okay! Ich meditiere regelmäßig und trage auf meinem linken Handgelenk, da, wo wir sonst eine Uhr tragen, das Wort NOW. Jetzt. Denn emotionale Angst geschieht immer über eine Situation, die noch nicht eingetroffen ist. Ich erde mich viel, umgebe mich mit Menschen, die mir guttun und mit denen ich ehrlich über meine Ängste sprechen kann. In den letzten Jahren habe ich verstanden, dass es nicht darum geht, ohne Angst zu leben, sondern darum, so gut wie möglich mit der Angst. Keine*r von uns kann Angst jemals voll loswerden. Ich integriere, spreche offen, suche weiter nach Wegen, die mich ruhig, zentriert und ausgeglichen sein lassen. Yoga, Waldbaden, Klänge, Meditation, gutes Essen und, so oft es geht, frische Luft.

Wenn du unter Ängsten leidest, dann sprich bitte mit Menschen. Auch wenn es nur dein*e Hausärzt*in ist. Es gibt viele Therapieformen, mit denen wir Ängste besser annehmen und verstehen können. Die kognitive Verhaltenstherapie zum Beispiel zeigt ausgezeichnete Erfolge bei Angststörungen. Denn so unterschiedlich wir sind, so unterschiedlich können auch unsere Ängste sein – und die passenden Therapieformen. Und über allem steht: Du bist nicht alleine! Niemals.

PS: Ich habe in diesem Artikel zwei „Geheimnisse“ mit dir geteilt. Das mit den Zironensaft Sticks weiß eigentlich fast niemand. Und dass ich heute immer noch Angst davor habe, umzukippen, wenn ich vor Menschen spreche, auch nicht. Du bist nicht alleine!

Text: Lara Keuthen Foto: Roman Dachsel

Dieser Text ist ursprünglich in der aktuellen LIBERTINE Printausgabe #Identität erschienen, die du hier bestellen kannst.