Dancing with the Earth
Die Erde ist ihr Choreograph. Sie zeichnet den Rhythmus der Tänzerin Moon Ribas, die in ihrem linken Arm einen Chip trägt, der über eine seismische Datenbank mit ihr kommuniziert. Mittels Vibrationen teilt er ihr mit, sobald irgendwo unter der Erde tektonische Platten aneinanderstoßen. Die Künstlerin hat ihre Sinneswelt um einen zusätzlichen Sinn erweitert und hebt damit nicht nur den zeitgenössischen Tanz auf eine neue Ebene.
Regungslos steht sie vor ihrem Publikum, erwartungsvolle Blicke auf sie gerichtet. Die Tänzerin Moon Ribas wartet auf Vibrationen des kleinen Sensors in ihrem Ellbogen, die den Anfang der Performance Waiting for Earthquakes markieren. Plötzlich schnappt sie nach Luft, ihre Arme fliegen nach oben, ihr Körper wird von der abrupten Bewegung erschüttert. Ab und zu sind es feine Regungen, einige Male krümmt sich ihr Körper unter ihrer Kontrolle.
Seit langem schon interessiert sich die katalanische Künstlerin für Bewegung in all ihren Formen. Sie suchte nach Wegen, wie wir Bewegung erfahren. Als sie realisierte, dass wir keinen Geschwindigkeitssinn haben, entwickelte sie einen Handschuh, der die Geschwindigkeit der Menschen um sie herum messen kann. Das brachte sie zu der Erkenntnis, dass in der Vatikanstadt deutlich langsamer gelaufen wird als in New York. Doch sie wollte Geschwindigkeit nicht mehr nur mit bloßem Auge sehen, Moon Ribas wollte die Bewegung fühlen. Sie entwickelte den Speedborg: Ohrringe, die Menschen in einem 360-Grad-Winkel wahrnehmen und ihr mittels Vibrationen mitteilen, wer sich wo auf sie zubewegt. Mit geschlossenen Augen war es ihr möglich, Lebewesen und andere Objekte, die sich um sie herumbewegen, zu spüren und ihre Schnelligkeit einzuschätzen.
Bald entstand der Wunsch, das Objekt nicht mehr nur auf der Körperoberfläche zu tragen, sondern es vollends in ihren Körper zu integrieren. Der Unterschied ist psychologisch begründet: auf der Körperoberfläche Getragenes wird nicht als Körperteil wahrgenommen, wohingegen sich der Mensch mit in seinem Körper vorhandenen „Dingen“ eher verbunden fühlt, sie intensiver betrachtet und nutzt, da man sie weder ablegen noch ausziehen kann. Im Körper von Moon Ribas doppeln sich nun zwei Herzschläge: ihr eigener, regelmäßig schlagender Puls, der sie am Leben hält, und der unregelmäßige Herzschlag des Planeten, auf dem sie lebt. Durch das Implantat, das seit 2013 unter ihrer Haut liegt, entsteht eine einzigartige Kommunikation zwischen der Künstlerin und der Erde. Sie ist in der Lage, Bewegungen zu fühlen, die kein anderer Mensch spürt. Wenn in Japan, Indonesien oder Nigeria die Erde bebt, spürt Moon Ribas Intensität und Länge schon ab der ersten Stufe der Richterskala in Echtzeit.
Da jedoch niemand der ihr Zuschauenden die Vibrationen des Sensors spüren kann, nimmt die Künstlerin eine Mittlerposition ein, mit der sie über ihren Körper in performativer Form die Bewegungen der Erde an ihr Publikum weitergibt. Um ihre Erfahrung zu teilen, setzt sie die ihr übermittelten, seismischen Messwerte tänzerisch in Waiting for Earthquakes oder musikalisch in Seismic Percussion um. Je stärker das Beben, desto ausschlagender sind ihre tänzerischen oder musikalischen Gesten. Mit der skulpturalen Nachbildung ihres Armes, der ebenfalls in Echtzeit vibriert, sobald unterhalb der Erdoberfläche Energie freigesetzt wird, kann der ihn Berührende die Erdbeben sogar selbst fühlen. The Seismic Sense, der seismische Sinn von Moon Ribas, öffnet die Tür zu einer versteckten Welt – eine Erfahrung, die in gegenwärtigen, technologischen Interaktionen fast verschwunden ist.
Der 1960 erstmals aufgetauchte Begriff des Cyborgs diente zunächst als Umschreibung für die Kopplung von Mensch und Maschine, des menschlichen Verstandes und dem Computer. Hören wir heute das Wort Cyborg, schießen uns fiktive Figuren in den Kopf: der Terminator, die Replikanten aus Blade Runner. Bei dem Wort Cyborg denken wir sofort an maschinell optimierte Menschen, die roboterähnlich durch die Welt fahren, aber keinesfalls an Lebewesen, die uns alltäglich begegnen könnten. Während Cyborgs früher noch in den Bereich von Science-Fiction einzuordnen waren, sind sie heute längst Realität. Biohacker, Aktivisten und Wissenschaftler beschäftigen sich mit Eingriffen in biologische Prozesse, mit transhumanen Veränderungen an sich oder anderen und dem Implantieren von Computerchips. Cyborgs sind Menschen, die Technik mit dem menschlichen Körper vereinen und mit ihm experimentieren. Ihr Ziel ist es, den menschlichen Körper zu erweitern und seine Sinnesleistung mittels Technologie auszudehnen.
Anders als die frühen Verbildlichungen, die mit dem Begriff des Cyborgs verbunden werden, sind Cyborgs längst in unseren Alltag integriert. Nur benennen wir sie nicht so. Das eingedeutschte, englische Wort Cyborg kommt aus der Verschmelzung von cybernetic (dt. kybernetisch) und organism (dt. Organismus). Im Grunde sind alle Menschen mit Herzschrittmachern Cyborgs: In ihren Körpern wird der menschliche Organismus mit Technik vereint, in diesem Fall, um ein fehlerhaftes Organ zu optimieren. Ein Cyborg zu sein heißt aber nicht nur den Körper mit mechanischen oder elektronischen Mitteln zu erweitern, auch Psychopharmaka und genetische Entwicklungen zählen dazu. Durch das posthumane Konzept der Impfung beispielsweise werden Menschen chemisch so umprogrammiert, dass sie bestimmten Krankheiten widerstehen können.
Schon immer modifizierte der Mensch sich selbst und seine Umwelt. Die vom Menschen geschaffene Welt an sich ist artifiziell, der „Naturzustand“ wäre das Fehlen von Technologie, Zivilisation und Kultur. Ist die Cyborgismus-Bewegung als Konsequenz der gegenwärtigen Präsenz und Nutzung technologischer Neuerungen dann nicht logisch? Eine technische Erweiterung unserer Sinne würde Bewusstseinszustände ausweiten und möglicherweise sogar zu einer Verbesserung unseres Lebens führen. Doch körperliche Eingriffe dieser Art zählen allerdings noch immer zu Formen der Grenzüberschreitung. Ein Tabuthema, das keine klare Abgrenzung erfährt. Denn das Stechen einer Tätowierung oder das Brustimplantat zählen längst nicht mehr dazu. Vielleicht, weil Tinte oder Silikon unter der Haut keine Funktion hat?
Unsere Psyche begreift Mensch und Technik längst als Einheit: Das Smartphone, das jeder besitzt, ist ständig in unserer Nähe. Es optimiert und modifiziert unser Leben. Statt zu sagen, dass der Handyakku leer ist, sagen wir, dass unser Akku leer sei; statt zu sagen, das Handy hat keinen Speicherplatz mehr, sagen wir eher, wir hätten keinen Speicherplatz mehr. Sprache und Gehirn betrachten Technologie also längst als Teil des menschlichen Körpers.
„It‘s our planet’s dance“, den Moon Ribas mit ihrem Körper zusammenführen will, den sie mit performativen Ausdrücken vereint und zeitgenössischen Tanz so auf eine neue Ebene hebt. Sie gibt den Rhythmus des Planeten wieder, auf dem wir leben, und offenbart uns nicht sichtbare Bewegungen, die sich tief unter unseren Füßen abspielen. Gegen Ende des Jahres plant sie, ihren seismischen Sinn von ihrem Arm in ihre Füße zu verlegen, um auch Mikrobeben so zu spüren, wie Menschen um sie herum weitaus stärkere Beben spüren würden: an der Position ihrer Körper, die ständig in Kontakt mit dem Planeten ist.
Cyborgismus als neue Kunstform und -bewegung, dafür setzt sich Moon Ribas ein. Für sie ist es Kunst, seine Sinne auszudehnen, seine Sinneswahrnehmung innerhalb des eigenen Organismus zu erweitern. Cyborgismus ist also die Kunst des individuellen Ausdrucks durch neue oder erweiterte Sinne, indem Kybernetik, Körper und Geist des Künstlers miteinander verschmelzen. Eine neue Form der Skulptur, die sich von „traditionellen“ Skulpturen nicht nur in der Materialverwendung unterscheidet, sondern die lebendig und interaktiv ist. Der Alltag wird zur Performance, wenn der Künstler gleichzeitig zum Kunstwerk wird.
Cyborgarts.com
Cyborgfoundation.com
Instagram: @moonribas
Text: Rebecca Heinzelmann Fotos: Mark Kaplan (Aufmacher), Will Clapson, Katia Repina