KAPITEL
Barida

Die Liebe im Wandel

Du glaubst, die Liebe sei zeitlos? Naja, jein. Die Empfindung, die wir als „Liebe“ bezeichnen, ist tatsächlich eine universelle menschliche Erfahrung. Sie ist ein Urtrieb. Aber: Wie mit diesem Urtrieb umgegangen wird, wie er gesehen und gedeutet wird, das unterscheidet sich nach Epoche, Moralverständnis, Kultur und Umfeld. Die romantische Liebe ist mit Utopien verbunden und die verändern sich ständig – ganz besonders jetzt.

Früher war alles anders

Das, was wir heute als romantische Liebe verstehen, war im 18. Jahrhundert in weiten Teilen der westlichen Gesellschaft eine unerwünschte Emotion. Die Ehe war wichtig, um sozialen Status aufrecht zu erhalten und zu verbessern – sie war gleichzeitig der schwerwiegendste ökonomische Schritt im Leben der meisten Menschen. Und weil man sich bekanntlich nicht aussuchen kann, wen man liebt, barg die Emotion „Liebe“ die Gefahr des sozialen Abstiegs. An dieser Auffassung änderte sich bis zum 20. Jahrhundert vergleichsweise wenig, bis ein fundamentaler Game-Changer die Gesellschaft auf den Kopf stellte: Der moderne Kapitalismus.

Als die Liebe auf den Markt traf

Ein wichtiges Prinzip des Kapitalismus ist die Auffassung, dass jeder die Chance auf Aufstieg durch Leistung hat. Der vererbbare soziale Sta-tus war nun nicht mehr länger das wertvollste Gut. Er wurde ersetzt durch das neue, gesellschaftliche Schmiermittel: Das Kapital. Soziales Ansehen, Ethnie, Religion, usw. wurden in der Partnersuche immer unwichtiger. Zum ersten Mal bestand eine echte Wahlmöglichkeit. Die Soziologin Eva Illouz bezeichnet diese Wahlmöglichkeit in ihrem Buch ‚Warum Liebe wehtut‘ als den wichtigsten Faktor der neuen Liebesutopie in der modernen westlichen Welt. Auch der romantische Markt funktioniert seither nach ökonomischen Regeln: Man hat einen gewissen Marktwert, steht in Konkurrenz, macht Kosten-Nutzen-Rechnungen. Das Konzept des „Rendezvous“ – heute nennen wir es „Dating“ – wurde zur wichtigsten Praktik der Partnersuche: Es fungiert nun als eine Art romantisches Job-Interview.

Gleichzeitig fand eine Individualisierung der Lebensstile statt: Der Mensch definierte sich im Zuge des fortschreitenden Kapitalismus, etwa bbidaab Beginn des 20. Jahrhunderts, immer weniger über seinen Stand in der Gesellschaft, sondern über seinen Charakter – über seine Einzigartigkeit. Dadurch wurde die Entscheidung, mit wem man sein Leben verbringen möchte, ein zentraler Bestandteil der Selbstverwirklichung. Die romantische Liebe wurde zum wichtigsten Lebensziel und zum zentralen Indikator für ein gutes Leben. Die neue romantische Utopie betrachtete nun Sexualität und Emotionen als voneinander getrennte Bereiche. Beschleunigt wurde dieser Trend dann durch sexuelle Befreiung, neue Verhütungsmittel und die Trennung von Lust und Reproduktion in den späten Sechzigern. Diese sollten jedoch letztlich in der „perfekten Beziehung“ – in einer lebenslangen Liebesaffäre – aufgehen. Seelenverwandtschaft war nun gefragt. Der Soziologe Niklas Luhmann bezeichnete diesen neuen Ehetypus schon 1969 als ein System der Kameradschaft.

Die neue Liebesutopie wurde sofort von den neuen Massenmedien und der Konsumkultur aufgenommen. Liebe, Romantik und vor allem Erotik wurden ästhetisiert und in Werbemotive umgewandelt – frei nach dem Motto „Sex Sells“ und im Einklang mit einer hochgradig patriarchalen Gesellschaft. Als sich die Sexualmoral lockerte, löste sich außerdem Schönheit vom Charakter und wurde einzeln betrachtet. Der Begriff der „Sexyness“ entstand und wurde zu einer eigenen Form von Kapital. In Film, Fernsehen, Werbung, Musik und Kunst wurden utopische Bilder von Liebesbeziehungen etabliert, die zu einem immer stärkeren Auseinanderdriften von Erwartung und Realität führten.

Unbegrenzte Möglichkeiten

Als das Internet im Jahr 1991 für jeden zugänglich wurde, setzte es eine unüberschaubare Masse an potentiellen Partner*innen frei – und das veränderte alles. Als Reaktion entstanden schnell die ersten Online-Dating-Plattformen, als erstes match.com im Jahr 1995. Das Konzept dieser frühen Plattformen dient auch heute noch vielen Partnerbörsen und beinhaltet meist das effiziente Filtern des Angebots mithilfe unzähliger Fragebögen und Psychotests – nach dem Motto „Liebe ist kein Zufall“. Eine Studie von 2011 belegt, dass das Internet als Ort des Kennenlernens inzwischen relevanter ist als der Arbeitsplatz, die Schule und der Freundeskreis zusammen. Gleichgeschlechtliche Paare finden sich sogar in 70 Prozent der Fälle über das Internet.

Und die Digital Natives? Für diese Generation, die zwischen zwei Welten feststeckt – zwischen einer Elterngeneration, die das Internet vor allem ins Staunen versetzt, und einer Nachfolgergeneration, die es quasi als naturgegeben wahrnehmen – gab es lange keine passende Form des Online-Datings. Sie sind mit Videospielen groß geworden und an Informationsfluten gewöhnt. Websites, die auf Fragebögen und Psychotests aufbauen, passen nicht in ihre Welt: zu kompliziert, zu mühsam.

Liebe im mobilen Zeitalter

Zwei Jahre nach dem Erscheinen des ersten iPhones, im Jahr 2009, entstand die erste, erfolgreiche Dating-App: Grindr. Aber erst drei Jahre später wurde das Dating-App-Zeitalter breitflächig eingeläutet, als in Kalifornien „Tinder“ konzipiert wurde. Inzwischen gibt es Dating-Apps in jeder denkbaren Ausführung und für jede denkbare Vorliebe. Oftmals als Untergang der Liebe verschrien, passen die neuen Dating-Apps perfekt zu der Art und Weise, wie Digital Natives denken und handeln. Die Filtermethode wird oftmals auf eine simple „Hot or Not“-Entscheidung reduziert. Die Apps setzen auf unkomplizierte Handhabung, fühlen sich an wie Videospiele und streicheln das Ego – denn das „Match“-System erlaubt kaum Zurückweisung. Der rasche Siegeszug dieser Apps ist ein Hinweis darauf, dass die erwähnte Entkopplung von Sexualität und Emotionen weiter fortschreitet: Man sucht nun beides immer öfter getrennt voneinander. Oder, wie Eva Illouz in ‚Der Konsum der Romantik‘ umschreibt: „Liebe und Sex bilden heute Grundlagen für getrennte und parallele Liebeserzählungen.“ Das deuten die einen als sexuelle Befreiung, die anderen als moralischen Untergang.

Mythos Beziehungsunfähigkeit

Als Folge dieser rasanten Veränderungen in den letzten 20 Jahren wird die „Generation Tinder“ gerne als beziehungsunfähig betitelt. Dabei darf man aber nicht vergessen, dass ein gewisses Maß an Verunsicherung nur logisch ist. Schließlich haben wir es momentan mit der vielleicht rasantesten Veränderung der Liebesutopie zu tun, die es jemals gegeben hat – und wir stecken noch mittendrin. Das Internet fungiert dabei als ein Katalysator, denn es entgrenzt die Möglichkeiten und maximiert gleichzeitig die ohnehin schon hohen Erwartungen. Es entstehen plötzlich völlig neue Formen von Beziehungen, die sich auf einem sehr breiten Spektrum zwischen Sex und Emotionen anordnen und nicht mehr in alte Lebensentwürfe passen: Zum Beispiel „Friends with Benefits“, unverbindliche Halbbeziehungen, offene oder polyamore Beziehungen – und viele, viele mehr.

The future is unwritten

Wir können uns im Umgang mit diesen neuen Bedingungen auf keine bestehenden Regeln berufen: Wir müssen selbst neue schaffen. Das ist überfordernd. Und es ist logisch, dass viele auf dieses Chaos mit Panik reagieren, die „guten, alten Zeiten“ betrauern und das Internet für den Untergang der Liebe verantwortlich machen. Was Stimmen wie diese aber vergessen, ist, dass mit dem Chaos auch etwas Großartiges einhergeht: Facettenreichtum.

Wir sind heute in der seltenen Situation, unsere romantischen Beziehungen individuell gestalten zu können – mit so wenig gesellschaftlichem Gegenwind wie nie zuvor. Diese ungemütlich undefinierte Umbruchsituation birgt eine große Chance für die Zukunft. Jetzt alten Ordnungen hinterherzutrauern, statt diese Chance zu nutzen, wäre romantischer Fundamentalismus. Lasst uns das Chaos annehmen – jeder für sich – und ein neues, ehrlicheres Konzept der romantischen Liebe gestalten: Frei von Entwürfen und Patentlösungen. The future is unwritten. Vergiss die Utopie von romantischer Liebe, die dir beigebracht wurde. Konzipier’ deine eigene!

Text: Johanna Warda Foto: Ramon Haindl