FAMILIE IST AUCH NICHT MEHR DAS, WAS SIE MAL WAR
Ich lebe in einer queeren Familie. Meine große Tochter nennt mich „Mama“, die kleinere ist Teil einer Co-Eltern-Familie mit zwei weiteren Müttern. Familie ist keine feststehende Norm und veränderte familiäre Lebensrealitäten stellen die Gesellschaft vor neue Herausforderungen. Familie ist auch nicht mehr das, was sie mal war. Und das ist auch gut so.
Wenn bei archäologischen Ausgrabungen neben einem Skelett aus der Steinzeit Waffen gefunden wurden, schloss man in der Forschung lange Zeit daraus, es müsse sich um ein männliches Skelett handeln. Fand man neben einem Skelett Küchenutensilien oder zusätzlich Skelette von Kindern, so wurde vermutet, es handele sich um das Skelett einer weiblichen Person. In Illustrationen, die das urzeitliche Leben vermeintlich wissenschaftlich fundiert veranschaulichen und darstellen sollen, finden sich Bilder von Mama-Papa-Kind-Kleinfamilien mit der für die bürgerliche Familie typischen Rollenaufteilung. Dabei gibt es für die Existenz eines solchen Familienmodells zu dieser Zeit überhaupt keine wissenschaftlichen Anhaltspunkte.
Wir formen uns unsere Vorstellung vom Zusammenleben in der Vergangenheit anhand unserer aktuellen Vorstellungen von Familie. Die Vergangenheit wird vor dem Hintergrund aktueller Geschlechter- und Familienbilder betrachtet, um dann mit den Ergebnissen unserer Interpretationen wieder die aktuellen Familienmodelle zu rechtfertigen und zu begründen. Nach dem Motto: Wenn das schon vor 20.000 Jahren so war, dann ist das vielleicht irgendwie „richtig“, „normal“ oder sogar „natürlich“. Unser Herangehen setzt als gegeben voraus, was bewiesen werden soll.
Statt „richtig“, „normal“ oder „natürlich“ sind Familienbilder jedoch vor allem eins: wandelbar. Die bürgerliche Kleinfamilie, die heute vielfach als selbstverständlich wahrgenommen wird, ist vergleichsweise jung und hat mit den tatsächlichen Lebensrealitäten, Geschlechterrollen und Familienmodellen der Steinzeitmenschen wenig gemeinsam.
Aktuell stehen wir, wie wahrscheinlich häufig im Laufe der Geschichte, wieder einmal vor größeren Veränderungen. Es gibt immer mehr Ein-Eltern-Familien, Patchwork- und Regenbogenfamilien, queere Familien, Familien mit Trans*-Eltern, Co-Eltern-Familien und Drei- oder Vier-Eltern-Familien und jeweils noch die unterschiedlichsten Variationen innerhalb der genannten Kategorien. Die Zahl der Familien, die nicht der Mama-Papa-Norm entsprechen, wächst seit geraumer Zeit und diese Entwicklung wird sich in den nächsten Jahren auch nicht wieder umkehren.
Auf politischer und rechtlicher Ebene hinken die Regelungen den Realitäten teilweise zwar meilenweit hinterher, dennoch hat sich in den letzten Jahrzehnten auch hier einiges getan. Es darf nicht vergessen werden, dass es noch nicht so lange her ist, als Frauen nicht ohne Erlaubnis ihres Ehemannes eine Arbeit aufnehmen durften und Homosexualität unter Strafe gestellt wurde. Mittlerweile können Ehen recht problemlos geschieden werden und es gibt die Ehe für Alle. Auch die nächsten Schritte scheinen klar: Das Adoptionsrecht für gleichgeschlechtliche Paare wird kommen.
Die Entwicklungen vollziehen sich leider nicht ohne Gegenwehr. Konservative und reaktionäre Kräfte kämpfen um ihr bürgerliches Familienleitbild und beharren auf ihrem Recht, andere zu diskriminieren und ihnen Definitionen von „richtig“ und „falsch“, „normal“ und „abnormal“ aufzudrücken. Sie kämpfen darum, ihre eigenen Lebensentscheidungen als allgemeingültige Normen aufrechtzuerhalten, sie weigern sich, veränderte gesellschaftliche Realitäten anzuerkennen, und argumentieren mit einer fälschlicherweise angenommenen Natürlichkeit von Geschlechterrollen und Familienkonstellationen. Eine Partei, die sich entschieden gegen die Weiterentwicklung der Gesellschaft wehrt und vor allem LGBTIQ-Rechte einschränken möchte, ist die große Gewinnerin der letzten Bundestagswahl.
Ich schaue dennoch mit einem gewissen Optimismus in die Zukunft. Die bereits in vielen Familien gelebten Modelle lassen sich nicht so einfach wieder zurückdrängen. Ich wage die Behauptung, dass noch niemals zuvor so viele Menschen aus unterschiedlichen Familienkonstellationen in der Öffentlichkeit zu Wort gekommen sind wie heute. In diesen Familien wachsen wiederum Kinder heran, die genau wissen, wie unproblematisch es ist, zwei Mütter zu haben und/oder drei Elternteile. Die Zeit lässt sich nicht zurückdrehen.
Die bisherigen gesellschaftlich-politischen Erfolge sind nicht vom Himmel gefallen, sondern das Resultat eines langen Kampfes vieler mutiger Aktivist*innen. Diese emanzipatorische Arbeit muss weitergeführt werden:
Erstens: Die Angriffe von rechts müssen abgewehrt werden. Die Argumentation reaktionärer Kräfte, ihre Forderung nach „normalen“ und „natürlichen“ Familien, muss als rechte Ideologie entlarvt werden. Vor allem vor dem Hintergrund der aktuellen politischen Entwicklungen in der Welt erscheint dies als drängendste Aufgabe der nächsten Jahre.
Und zweitens: Wir müssen weiter im Blick behalten, dass es Menschen und Familien gibt, denen noch immer erheblich mehr Steine in den Weg gelegt werden und deren Anliegen und Bedürfnisse noch immer viel zu oft hinten runterfallen. Trans*- und Inter*-Personen leben in Familien, bekommen Kinder und stehen mit falschen Geschlechtseinträgen in deren Geburtsurkunden. In meiner Familie kann eins von drei Elternteilen das eigene Kind nur mit einer Vollmacht aus dem Kindergarten abholen, weil es nicht möglich ist, dass mehr als zwei Personen rechtlich Eltern eines Kindes sind und das Sorgerecht gemeinsam ausüben. Mit ein paar kleineren Gesetzesänderungen ist es nicht getan. Vielmehr werfen die neuen Familienkonstellationen die Frage auf, was rechtlich unter den Begriffen „Mutter“ und „Vater“ zu verstehen ist. Bei aller aktuellen Befürchtung, sogar bereits vorhandene Errungenschaften wieder verlieren zu können, müssen wir doch auch den Blick nach vorne richten und weiter für die Utopie einer Gesellschaft kämpfen, in der es nicht vom Zufall abhängt, ob die eigene Familie rechtlich anerkannt ist und ihre Bedürfnisse Beachtung finden.
Ich wünsche mir eine Zukunft, in der allen Menschen zugehört wird, eine Zukunft, in der eine emanzipatorische Gesellschaft versucht, den Menschen gerecht zu werden und keiner willkürlich konstruierten Norm.
Über den Autor: Ein Vater, zwei Töchter, eine Ex-Freundin und ein lesbisches Paar – so sieht die Familienkonstellation von Jochen König aus, der als Autor und Blogger regelmäßig über Familie und Co-Elternschaft, über Väter und Gender und die Aufteilung von Care-Arbeit schreibt. Sein aktuelles Buch „Mama, Papa, Kind? Von Singles, Co-Eltern und anderen Familien“ widmet