„Ich bin trans. Ich bin schwul. Ich bin hetero, oder auch nicht. Ich bin queer.“
Was bedeutet Identität, wenn man nicht nur sein Geschlecht angleicht, sondern auch die sexuelle Orientierung eine neue Facette bekommt? Wie ist es, wenn das, was nach einer langen Suche so sicher und klar schien, noch einmal kräftig durcheinandergewirbelt wird? Chris erzählt seine ganz persönliche Geschichte und beschreibt sein Wandeln zwischen den Welten.
Es ist dunkel. Der Lärm des Clubs dringt herunter in die Kellerräume, mischt sich in die stickige Luft, die nach Schweiß, Testosteron und Sex riecht. Der Keller ist voll von Männern, die in den Gängen stehen, sich an den Wänden herumdrücken, die es in Ecken und Verschlägen miteinander treiben. Die, die noch alleine sind, suchen. Manche schauen, fragend, gierig, andere schauen weg, ich bin nicht ihr Typ. Es ist schwer, Gesichter klar zu erkennen. Doch die Blicke kommen selbst im Dunkeln noch an. Es sind Schemen, die sich mir nähern. Die mich wie zufällig berühren oder gezielt und ungeniert greifen. Alle meine Instinkte sind wach, die Sinne laufen auf Hochtouren. Ich rieche, fühle, spüre, wen ich will. Ich werde nicht seinen Namen kennen, ich werde kaum ein Wort mit ihm wechseln. Und doch werden wir gleich Sex haben. Aufs Wesentliche reduziert, animalisch. „Billig“ oder „schmierig“ würden vielleicht andere sagen. Es ist mir egal. Ich bin selig. Angekommen, nach so vielen Jahren.
Es ist hell und klar. Das Bettzeug ist weiß, die Wände sind es und auch die Haut der Frau, die ich liebe. Sie liegt neben mir und schläft noch. Sie ist nackt und ich betrachte ihren Körper. Die seidig-weiche, feine Haut. Die schönen Rundungen. An ihrem ganzen Körper gibt es nichts Hartes oder Kantiges. Ihr Teint ist so klar, dass meine Haut dagegen uneben wirkt. Die wenigen Härchen auf ihren Armen sind hellblonder Flaum, man muss sie suchen – im Gegensatz zu meinem Fell, das ich an Bauch und Rücken trage. Gegen sie wirke ich wie ein Tier. Ich betrachte sie mit Staunen. Was ich sehe, sollte mir von früher bekannt sein und ist doch so seltsam fremd und aufregend. Ich bin selig. Angekommen, in ganz neuem Terrain.
Ich bin trans. Ich bin schwul. Ich bin hetero, oder auch nicht. Ich bin queer. Ich war eine Frau, irgendwie. Nun bin ich ein Mann. Und ich bin auch ein Zwischenalledem, für das es kein Wort gibt, das mir so recht gefällt.
Aber der Reihe nach. Geboren wurde ich als Christiane. Es wird das letzte Mal sein, dass ich diesen Namen hier schreibe, denn ihn zu lesen tut mir weh. Ich wuchs auf in den späten Siebzigern, Achtzigern, Neunzigern. In der westdeutschen Provinz voller Männer und Frauen und eben keinem Dazwischen. In der die einzige Schwulenkneipe schließen musste, bevor ich alt genug war, sie von innen zu sehen. In dieser Provinz der 90er verschwieg man HIV, kannte Trans-Frauen – niemals Männer! – nur aus schlechten Krimis, und in der Schule brüllte man dem einzig offen homosexuellen Lehrer „Schwule Sau!“ hinterher. Das gehörte zum guten Ton.
So ist es vielleicht kein Wunder, dass ich lange Zeit keinen Namen hatte für das, was ich empfand. Geschweige denn Role Models. Ich war weiblich, aber fühlte mich männlich. Doch ich mochte ja Männer – die Teile des Puzzles wollten einfach nicht zusammenpassen, egal wie lange ich draufstarrte.
Wenn ich mich an damals erinnere, muss ich lachen. Ein schwuler Trans-Mann. Heute kommt es mir vor wie das queere kleine Einmaleins. Aber aus der 2019-Berlin-Perspektive mit Internetzugang ist das einfach zu sagen. Damals fühlte ich mich einfach nur auf dem falschen Planeten. Und wusste nicht, was die Lösung dafür war.
Ich schlief mich also die nächsten Jahre als Frau durch ein paar Beziehungen mit Männern und arbeitete mich durch psychotherapeutische Sitzungen, in denen ich ermuntert wurde, meine weibliche Seite anzunehmen. Und machte Ausflüge ins Internet, in denen ich mich in Chaträumen herumtrieb, die damals noch aus Text bestanden. Dass mein virtuelles Ich immer ein Mann war und sich dort mit anderen Männern traf, schien ich einfach nicht wahrzunehmen. Wie gesagt: Rückblickend erscheint alles so einfach.
Es musste mich nach Berlin verschlagen, bis es 2008 endlich klick bei mir machte: Ich war trans und schwul. Bingo!
Und trotzdem bedurfte es weiterer acht Jahre, bis ich ganz ja dazu sagte, wer ich war. Ja zu Hormonen, ja zu einem neuen Namen, ja zu einem Körper, der mir so viel mehr entspricht. Acht verlorene Jahre, in denen die Angst und die Gewohnheit die Oberhand behielten. Weil ich in mein altes Ich und seinen Körper hineingewachsen war, mich in ihn hineintherapiert und mit ihm arrangiert hatte. Wir waren nicht glücklich miteinander, aber wir hatten Waffenstillstand.
Manchmal vergleiche ich meine Situation damals mit jemandem, der in einer dunklen, schimmeligen Wohnung wohnt. Es ist die Wohnung, in der er geboren wurde. Er kennt nichts anderes. Er fühlt sich nicht wohl darin, die Dunkelheit deprimiert ihn und macht ihn krank, aber er weiß auch nicht, dass es woanders besser sein könnte. Er hat Angst, in eine andere Wohnung umzuziehen, denn er weiß nicht, was ihn dort erwartet. Wenn er dann endlich umgezogen ist und sich in seiner hellen, neuen Wohnung umschaut, die gut riecht und sich so viel besser anfühlt, die ihm Frieden und Harmonie gibt, dann sagt er plötzlich „Zuhause“ zu seiner Wohnung. So ging es mir mit meinem Leben vor und nach meiner Transition. Ich bin nun zu Hause. Angekommen.
In den letzten dreieinhalb Jahren meiner Transition ist viel passiert. Die Hormone haben ihren Job gut gemacht. Der Chirurg ebenfalls. Als Mann gelesen zu werden, ist heute Normalität für mich. Eine Transition ist jedoch nicht einfach ein schlichter Wechsel der Gestalt von weiblich zu männlich. Es ist vielmehr ein tiefgreifender und langer Prozess der Veränderung, der sich durch alle Ebenen eines Lebens zieht, durch den Körper, der sich umgestaltet auf Hormonen: nach Tagen oder Wochen die ersten Anzeichen einer Metamorphose, und noch Jahre später Veränderungen, graduell im Moment, brachial in der Rückschau. Durch die soziale Rolle, wie man von anderen gelesen wird. Durch das eigene Fühlen, wie man sich und die Welt sieht, die plötzlich viel simpler erscheint als vorher, dafür aber auch schwarz-weißer, eindimensionaler und kompetitiver. Durch den Sex Drive, der durch die Decke geht und an einem zerrt, Tag und Nacht, wie ein hungriges wildes Tier an einer Kette. Und oft auch durch die Frage, wen und wie man begehrt.
Für mich war die Sache zumindest in Bezug auf das Begehren lange Zeit klar: Ich war schwul. Ich war es schon gewesen, als ich noch als Frau gelebt hatte; da wussten es nur die Männer nicht, mit denen ich zusammen war. Nun, da ich in meiner männlichen Identität lebte und mit der Zeit auch immer mehr als Mann gelesen wurde, konnte ich endlich schwul leben ohne das Gefühl der Scham, das mich immer begleitet hatte. Für mich war offen schwul zu leben keine Bürde, sondern eine Befreiung. Eine Identität, in der ich mich zu Hause fühlte, mit einer Subkultur, die mich anzog und nährte. Männer fand – und finde ich immer noch – körperlich anziehend, ihre Körperlichkeit, ihre sexuelle Direktheit und Wucht.
So habe ich mich seitdem mit großer Freude in Darkrooms und Dating-Apps getummelt und Männer in mein Bett eingeladen. Dies war ein Lebensstil, den ich wollte. Der Gedanke an eine feste Beziehung, gar eine Frau als Partnerin? Ausgeschlossen.
Und plötzlich ist da diese Frau in meinem Leben. Die Dynamik mit einer Frau ist ganz anders als die mit Männern. Plötzlich bin ich „der Typ“ in der Beziehung. Und das ist neu für mich und fordert mich. Hatte ich doch in den letzten Jahren im Zeitraffer eine zweite Pubertät und neue Sozialisation durchlaufen und wurde langsam immer sattelfester, war ich plötzlich ein weiteres Mal gefühlt 19 oder 20 Jahre alt und am Beginn meiner Männlichkeit im Umgang mit ihr. Frauen sind so anders als ich. Wesensartig, energetisch, körperlich. Mein Staunen ist so groß, als sei ich zuvor noch nie auf diese Sorte Mensch getroffen – und nicht etwa, als sei ich einmal ein Teil davon gewesen. Irgendwie.
Dieses Staunen macht mir klar, wie unglaublich groß der Abstand meines Seins zu dem einer Frau geworden ist. Vieles, was ich vorher gar nicht mehr wahrgenommen habe, fällt mir nun in der Begegnung mit einer Frau wieder auf, und ich bin selbst beeindruckt, wie viel sich verändert hat. Ich bin im Mann-Sein angekommen, ohne es bemerkt zu haben.
Und trotzdem kann ich wieder von vorne beginnen mit der Frage, wer ich bin. Was macht es mit mir, mit ihr zusammen zu sein? Was macht es aus mir? Bin ich nun hetero? Bin ich plötzlich nicht mehr schwul? Der Gedanke daran, nun als Hetero gelesen zu werden, treibt mir noch immer den Schweiß auf die Stirn. Ich fühle mich bedroht, in meiner Identität, die ich mir all die Jahre so hart erkämpfen musste. Meine schwule Identität, aber auch meine Identität als Mann mit einem trans*-Kontext, verschwindet in der Stereotypisierung einer Mann-Frau-Beziehung. Nicht meine Freundin ist die Bedrohung, sondern die Tatsache, wie andere uns lesen. Die Zuschreibungen, die ungefragt gemacht werden. Manch anderer würde viel darum geben, in dieser sogenannten Normalität untertauchen zu können. Mir macht sie Angst. Ich möchte meine queere Sichtbarkeit behalten. Ich habe so viele Jahre damit verbracht, in eine Schublade gestopft zu sein, auf der das Etikett „Frau“ stand, dass ich nicht postwendend wieder in die nächste Schublade mit einem Label steigen will, das nicht mir gehört.
Wir navigieren uns gemeinsam durch diese Fragen, auf die es keine einfachen Antworten gibt. Wohl aber Einsichten, wenngleich auch manchmal paradoxe. Wir definieren unsere Beziehung als queer. Wahrscheinlich, weil der Begriff Raum für Interpretation und zum Atmen übrig lässt. Raum fürs Angekommen-Sein und fürs Dazwischen. Und den Raum für alle Widersprüche, die mit meinem Sein verbunden sind und die ruhig vorhanden sein dürfen. Ein Bekannter hat über mich einmal gesagt: „Dein Zuhause ist auf der Systemgrenze.“ Ja, und da bin ich angekommen.
Text Chris Philipps Fotos Virginia Garfunkel
#TransgenderDayofRemembrance
Dieser Beitrag ist ursprünglich in der aktuellen LIBERTINE 08 #Identität erschienen, die du hier bestellen kannst.