Jordaniens SheFighter
Lina Khalifeh hat Jordaniens erstes Selbstverteidigungsstudio für Frauen gegründet. Mit Gesprächsseminaren und vor allem Kampftsportunterricht bringt sie ihnen bei, für ihre Rechte einzustehen – mit Worten und, wenn nötig, mit Fäusten.
Die Erinnerung an den Hieb, den sie dem Jungen versetzte, lässt Batoul kichern. „So habe ich ihn getroffen“, sagt sie mit blitzenden Augen, winkelt den linken Arm an und stößt den Ellbogen in die Luft. „Ich liebe diesen Schlag, ich wollte ihn immer schon mal ausprobieren. Ich war so glücklich!“
Batoul Muhannad, 21 Jahre alt, eine zierliche junge Frau mit langen, schwarzen Haaren und hellem Teint, sieht nicht so aus, als würde sie es genießen, fremden Männern ihren Ellbogen ins Gesicht zu rammen. Das muss sich auch der Junge gedacht haben, der ihr wochenlang morgens auflauerte, wenn sie ihre jüngere Schwester zur Schule begleitete. Jeden Tag passte er die Mädchen an einer Ecke ab und folgte ihnen dann bis zur Schule. Eines Tages, Batoul hatte gerade ihre Schwester verabschiedet, forderte er sein Glück heraus: In Begleitung von ein paar Freunden, alle um die 16, 17 Jahre alt, ging er geradewegs auf Batoul zu, näherte sich ihr bis auf wenige Zentimeter. „Ich weiß nicht, ob er mich anfassen oder schubsen wollte“, sagt Batoul, „aber ich habe ganz automatisch reagiert und ihm eine verpasst.“ Sie lacht vergnügt. „Er hat sich sofort verzogen, ohne sich auch nur ein einziges Mal umzublicken.“
Batoul erzählt diese Anekdote an einem Morgen in Amman, Jordaniens Hauptstadt. Sie sitzt im oberen Stockwerk eines kleinen Coffee-Shops, der der amerikanischen Kette Starbucks nachempfunden ist mit seiner Auswahl an Latte- und Cappuccino-Sorten – was eigentlich untypisch ist für Jordanien, wo man traditionell nur dicken, schwarzen, stark gesüßten Kaffee trinkt. Aber auch Batoul Muhannad ist ja untypisch für dieses Land, diese Stadt: äußerlich, weil sie, anders als die meisten Frauen hier, kein Kopftuch trägt; innerlich, weil sie sich gegen die herrschenden sozialen Normen auflehnt.
Ein Nebenjob, der ihr Leben änderte
Batoul Muhannad war nicht immer so. Früher, vor ein paar Jahren noch, erzählt sie, fühlte sie sich unsicher in der Öffentlichkeit, hatte Schwierigkeiten, Entscheidungen zu treffen und war generell ein eher furchtsames Mädchen. „Ich gehörte zu den Menschen, die zu schüchtern sind, um ein Taxi zu rufen“, erinnert sie sich. All das änderte sich, nachdem ihr eine Stellenanzeige ins Auge fiel. Sie war 19 Jahre alt, hatte gerade ein Englischstudium begonnen und suchte einen Nebenjob. Auf Facebook sah sie, dass ein Sportstudio eine Rezeptionistin suchte. Sie bewarb sich und wurde genommen.
Bei ihrem neuen Arbeitsplatz handelte es sich allerdings nicht um ein gewöhnliches Fitnessstudio, sondern um die erste Einrichtung im ganzen Land, die Frauen in Selbstverteidigung und Kampfsport ausbildet. Der passende Name: „SheFighter“. Batoul mochte die Idee, hatte aber anfangs keine Lust, selbst Kurse zu belegen: „Ich war ein bisschen faul und zufrieden damit, an meiner Rezeption zu sitzen. Aber weil ich dort so viel Zeit verbrachte, konnte ich die Menschen beobachten. Ich sah, dass die Frauen das Studio anders verließen, als sie es betreten hatten. Ihre Körperhaltung änderte sich, manchmal auch ihre Kleidung. Das hat mich fasziniert.“
Die Gründerin und Leiterin von „SheFighter“, Lina Khalifeh, ermutigte Batoul, ein paar Kurse auszuprobieren nach dem Motto „Du hast einen richtig guten Schlag und du zielst gut. Hast du nicht Lust, einen Trainerkurs zu machen?“ Anders als viele andere junge Frauen, die bei „SheFighter“ trainieren, kommt sie aus einer liberalen Familie; ihre Eltern hatten nichts gegen ihr neues Hobby einzuwenden. Schnell zeigte sich, dass Batoul ein besonderes Talent fürs Kickboxen besaß und so verließ sie ihren Posten an der Rezeption und bildet heute andere Frauen im Kickboxen aus. Inzwischen ist sie selbst so gut, dass sie gegen Männer kämpft. Demnächst will sie zu einem internationalen Turnier nach Abu Dhabi reisen.
Der Sport ist für Batoul Muhannad nicht bloß Hobby; er hat die Art verändert, wie sie durchs Leben geht. Seit Beginn ihrer Pubertät, als ihr Körper sich von dem eines Kindes zu dem einer Frau verwandelte, starrten Männer und Jungen sie auf der Straße an, riefen ihr schmutzige Bemerkungen zu, pfiffen, machten obszöne Gesten. „Es war ekelhaft“, erinnert sie sich. „Ich zog mir extra weite Kleidung an, die meinen ganzen Körper verdeckte.“
Belästigung gehört für Frauen zum Alltag
Sexuelle Belästigung, meist verbal, in seltenen Fällen auch körperlich, gehört für viele Frauen in Jordanien zum Alltag. Seitdem sie Selbstverteidigung und Kampfsport trainiere, sagt Batoul, sei ihre „persönliche Belästigungsrate“ jedoch um 80 Prozent gesunken. „An meinem Gang können die Leute sehen, dass sie sich nicht mit mir anlegen sollten“, lacht sie, sichtlich zufrieden.
Dieser Effekt ist es, den Lina Khalifeh meint, wenn sie von „Empowerment“ spricht. die 32-jährige Jordanierin mit Kurzhaarschnitt gründete „SheFighter“ im Jahr 2012. Zu diesem Zeitpunkt hatte sie schon viele Jahre Kampfsport trainiert: Taekwondo, Boxen, Kickboxen und Kung Fu. Die Idee, ihr Wissen weiterzugeben, kam ihr während ihres Französischstudiums, als eine Freundin mit blauem Auge auf dem Campus erschien. Ihr Vater und ihr Bruder hatten sie geschlagen, aus nichtigen Gründen, sagt Lina Khalifeh: „Sie fühlen sich dominant und wollen die Frauen unter Kontrolle halten. Es gibt so viel Gewalt gegen Frauen in diesem Land, aber niemand spricht darüber. Deshalb beschloss ich, Frauen beizubringen, sich selbst zu verteidigen.“
Zunächst gab sie Kurse und Workshops in verschiedenen Studios bevor sie ihr eigenes gründete. Die Methode zur Selbstverteidigung, die sie unterrichtet, hat sie selbst entwickelt: eine Kombination aus klassischen Selbstverteidigungsmethoden, Taekwondo und Boxen. Neben dem Kampftraining bietet sie auch psychosoziale Seminare und Workshops zu Themen wie Geschlechterrollen oder sexuelle Belästigung an. Sie gibt Kurse in Schulen, spricht auf Konferenzen, veranstaltet Workshops in ländlichen Gegenden und Flüchtlingscamps.
Sie ist überzeugt: „Selbstverteidigung ist eine der besten Methoden, mit der Frauen Selbstbewusstsein entwickeln. So können sie reagieren, wenn jemand sie angreift. Hoffentlich wird das nie passieren, aber wir können nicht einfach davon ausgehen, dass die ganze Welt eines Tages friedlich sein wird. Wer trainiert, ist auf das Schlimmste vorbereitet.“ Anfangs traf sie auf erheblichen Widerstand – bei beiden Geschlechtern. Viele Männer wollten die Kontrolle über ihre Frau behalten, oder sie denken, Kampfsport sei nur etwas für Männer. Aber nach einer Weile stellte sie fest, dass das Problem auch bei den Frauen liegt: „Ich sage ihnen, dass sie das männerdominierte System unserer Gesellschaft bekämpfen sollen. Aber dazu müssen sie die Komfortzone verlassen, in der sie aufgezogen wurden. Das ist schwer. Manche Frauen stemmen sich dagegen.“
Sie selbst begann schon früh, gegen die starren Geschlechterrollen zu rebellieren, die die jordanische Gesellschaft Männern wie Frauen auferlegt. Fünf Jahre alt sei sie gewesen, erzählt sie, als ihr Vater ihrem Bruder ein Skateboard schenkte und ihr eine Barbie. „Ich will auch lieber ein Skateboard“, beschwerte sie sich. Der Vater wischte die Angelegenheit mit einem Witz vom Tisch. Aber Lina Khalifehs Gespür für die Ungleichbehandlung der Geschlechter war geweckt.
Einen eigenen Weg einzuschlagen statt sich der traditionellen Frauenrolle zu fügen, ist in einer konservativen Gesellschaft wie der jordanischen eine Herausforderung. Nur knapp 18 Prozent aller jordanischen Frauen gehen arbeiten, weniger als in Saudi-Arabien. Die meisten heiraten jung, bekommen rasch Kinder und kümmern sich anschließend um Nachwuchs und Haushalt. Dass Lina Khalifeh allein lebt, ein eigenes Geschäft führt und nicht verheiratet ist, halten viele für anstößig.
Es passiere ihr oft, erzählt sie, dass fremde Männer sie auf der Straße ansprechen und ungefragt Ratschläge erteilen: „Du solltest die Haare nicht kurz tragen, so findest du keinen Ehemann.“ Mit der Zeit hat sie gelernt, gelassen zu bleiben. Trotz vieler Widerstände findet sie jedoch mit ihrer Botschaft Gehör – und mehr und mehr Anhängerinnen. Vor zwei Jahren ist sie in ein größeres Studio umgezogen.
Dank Kampfsport sind die Frauen selbstbewusster
Inzwischen beschäftigt sie rund 15 Trainerinnen und hat noch sehr viel mehr Frauen ausgebildet, die heute für diverse Nichtregierungsorganisationen in ganz Jordanien arbeiten. Viele der Frauen, die bei „SheFighter“ in Amman trainieren, kommen aus der städtischen Mittelschicht. Doch Lina Khalifeh erreicht auch andere Frauen: Verschiedene Hilfsorganisationen wie „USAid“ und „Oxfam“ kooperieren mit ihr, bezahlen Kurse und Workshops für ärmere Frauen in ländlichen Gegenden und in Flüchtlingscamps. In diesem Jahr plant sie, Lizenzen für SheFighter-Ableger nach Kuwait und Dubai zu vergeben. Derzeit sei sie unter anderem mit einer deutschen Sportorganisation im Gespräch. „SheFighter richtet sich an alle Frauen“, sagt sie, „wir interessieren uns nicht für Namen, Religionen oder Ethnie.“
Bei vielen der Frauen, die bei ihr trainieren, sagt Lina Khalifeh, habe sie im Laufe der Zeit Veränderungen beobachtet, die über die physische Fitness hinausgingen: Manche treten gegenüber ihren Männern selbstbewusster auf. Andere haben ihr Kopftuch abgenommen. Einige konnten sich in kritischen Situationen gegen Angreifer wehren, die andernfalls womöglich ihr Leben zerstört hätten. Auch Batoul Muhannad sagt, das Training habe ihr Türen geöffnet, von denen sie vorher nicht einmal geahnt hätte, dass sie existieren. „Ich bin mutiger geworden und sehe viel mehr Möglichkeiten vor mir“, sagt die junge Frau: „Letztes Jahr war ich fünf Monate in den USA auf einem Studentenaustausch. Ich bin zum ersten Mal ins Ausland gereist, das erste Mal in ein Flugzeug gestiegen. Früher hätte ich mich das nie getraut. Das alles habe ich „SheFighter“ zu verdanken.“
Text & Fotos: Mareike Enghusen
Dieser Text ist erstmals in LIBERTINE 05 #Kollektiv erschienen.