KAPITEL
Aufmacher

Lieben lernen in der Stille

Zum ersten Mal in ihrem Leben verbringt unsere Autorin zehn Tage in einem Schweigeseminar und will die Kunst der Meditation erlernen. Die Regeln des Seminars: Kein Blickkontakt. Keine Berührungen. Weder Alkohol noch Zigaretten. Keine Kommunikation mit der Außenwelt. Das viele Sitzen bereitet ihr zunächst Rückenschmerzen. Erschreckend sind auch die Stimmen in ihrem Kopf, die süß und erbarmungslos zugleich ihr Innerstes analysieren. Doch sie bleibt sitzen und atmet. Bis sich irgendwann Frieden und Liebe einstellen. Und sie merkt: Diese Kräfte kommen allein aus ihr selbst. 

An einem Dienstag um sieben Uhr morgens sitze ich im Schneidersitz auf einer schwarzen Matte in einer kleinen Meditationshalle irgendwo auf dem Lande in Rumänien. Mit geschlossenen Augen zähle ich meine Atemzüge. Von eins bis sieben. Von eins bis 14. Von eins bis 21. Es ist die erste Übung, die ich lerne, um meinen Geist zu beruhigen. Um mich herum höre ich rund dreißig Personen atmen. Manche sind erfahren in Meditation. Andere sind Beginner wie ich. Zehn Tage wollen wir in absoluter Stille verbringen. Die Regeln unseres „Silent Retreat“: Kein Blickkontakt. Keine Berührungen. Weder Alkohol noch Zigaretten. Keine Kommunikation mit der Außenwelt. Mein Handy ist aus und tief im Koffer vergraben. Bücher oder Musik habe ich gar nicht erst eingepackt. 

Der Ablauf für die nächsten zehn Tage ist straff: Täglich drei Meditationen von jeweils zwei Stunden oder mehr. Hinzu kommt Yoga. Auch werden wir unser Karma verbessern, etwa beim Gemüse schälen, Bäder putzen oder Flure wischen. Neben der Meditation sind die „Lectures“ essentiell. Unser Meister heißt Sahajananda, ein Rumäne, der jahrzehntelang in Indien gelernt hat. Sahajananda ist Begründer des „Hridaya Yoga“, das wir in den kommenden Tagen verinnerlichen wollen. Von Tag eins an sitzt er in der Meditationshalle vorne, ganz in Weiß gekleidet. Unsere Meditation beginnt, wenn er ein Stäbchen gegen eine Klangschale schlägt. Auf diese Weise endet sie auch. Jeden Abend wird Sahajananda unsere Fragen beantworten, die wir auf Zettel schreiben und neben ihn legen. An diesem Dienstagmorgen habe ich noch keine Ahnung, dass seine Worte für mich lehrreich sein werden wie selten – darüber, was Leben ist, was Liebe, was Tod.

Ich betrachte die Worte und lasse sie los 

„Warum willst du zehn Tage in Stille verbringen?“, hat meine Mutter vor einigen Monaten gefragt. Damit meint sie, dass ich weder Krebs habe noch vergewaltigt wurde, also kein extrem traumatisches Erlebnis zu verarbeiten habe, das die Auszeit rechtfertigen würde. Ach Mutter, wir haben uns so weit voneinander entfernt. Sie macht sich dauernd Sorgen oder verbalisiert ihren Unmut über mein Leben. Etwa darüber, dass ich nicht weiß, wo ich in einem Jahr leben, oder ob ich dann noch meinen Job haben werde. Sie versteht nicht, dass ich mit einem Menschen zusammen bin, der mit mir keine Zukunft plant. Aber auch ich möchte keinen Plan. Ich möchte die Welt betrachten wie ein kleines Kind und wieder staunen lernen. Ich möchte mich davon lösen, was ich denke, sein zu sollen. Und Meditation soll mein Wegweiser sein.

Wir sind nicht unser leidendes Ego, das wir so oft zu sein vorgeben. Wir sind weder unseren Dramen noch unseren Emotionen ausgeliefert. Der Kern des Menschen geht viel tiefer als die Realität des Lebens. Sahajananda gibt uns die ersten Werkzeuge an die Hand, um diesen Kern zu spüren. Sie lauten: Beobachten, Akzeptieren und Loslassen. Sahajananda benutzt das Wort „Surrender“. Das ist Lebenskunst, wie sie der Dichter Rumi beschrieben hat: „To feel joy in the heart when sorrow appears“.

„Du hast keine Priorität in meinem Leben“, bekam ich in meiner Beziehung einmal zu hören. Oder auch: „Du inspirierst mich nicht.“ In der Meditation gestehe ich mir ein, dass mich diese Worte verletzt haben. In meinem Kopf nehme ich sie in die Hand, betrachte sie und lasse los. Sie fliegen weg. Ein Gefühl von Freiheit stellt sich ein. Ich bin diese Worte nicht. Doch eine Frage drängt sich auf und am Abend schreibe ich Sahajananda einen Zettel. Muss ich nun alles akzeptieren, was Menschen mir zumuten? Er antwortet: „Zu Umständen, die dir nicht gut tun, musst du sogar Nein sagen. Dann bewahrst du dir Freiheit und Liebe.“

Wir lernen eine Methode, „die Glut im Herzen zu entfachen“, wie Sahajananda sagt. Das Herz kann Liebe atmen. Ich schließe die Augen und konzentriere mich auf dieses wunderbare Organ, stelle mir vor, wie es mit jedem Schlag Liebe saugt. Diese Liebe ist gar nicht an einen bestimmten Menschen gerichtet, sondern an etwas, dass sich meiner Vorstellung entzieht, irgendwo darüber liegt.

Frage dich, wer du bist, und du wirst Liebe finden

Es mag merkwürdig scheinen, mit Menschen zusammen zu leben, mit denen man noch nie geredet, denen man nie in die Augen geschaut hat. Doch der Umgang ist auf natürliche Weise vertraut. Jede*r geht still seiner oder ihrer Tätigkeit nach. Zugleich ist die Atmosphäre nicht traurig oder bedrückt. Zuweilen schaue ich doch heimlich in ein Gesicht und sehe oft ein Lächeln. Ich teile das Zimmer mit zwei Frauen, die ungefähr so alt sind wie ich. Jeden Tag gehen wir um 22 Uhr zu Bett, stehen um halb sieben auf, um uns mit Sonnengrüßen auf die erste Meditation vorzubereiten. Es ist erstaunlich, wie bewusst ich meinen Körper spüren lerne. Jede Bewegung hallt nach, minutenlang. Kribbeln in den Händen, Energie in der Brust. So viel Zeit nehme ich mir sonst nie. Fast jeden Tag gehe ich nach dem Mittagessen auf den Hügel vor dem Haus. Ich sauge die mit Schnee bedeckten Felder mit den Augen auf, höre die Raben über mir kreischen. Ich halte meine Hand an Baumstämme. Durch die Sonne sind sie warm. Oft küsse ich die Rinde. Einfach, weil ich etwas berühren will, vielleicht auch die Liebe teilen möchte, die durch die Meditation jeden Tag ein bisschen mehr in mir zum Vorschein kommt.

Sahajananda bringt uns die Methode der Selbstbefragung bei, den essentiellen Kern im Hridaya Yoga: „Frage dich: ‚Wer bist du?‘ – Schicht um Schicht wird sich lösen, so auch das Ego, und du wirst Liebe finden.“ Mit ‚Wer bin ich?‘ kann ich zuerst gar nichts anfangen. Das Fragezeichen stört mich. Ich versuche es mit ‚Ich bin‘. Doch meine Gedanken schweifen immer wieder ab. Vor allem die Einheiten am Nachmittag sind quälend lang für mich. Mir tut der Rücken weh vom langen Sitzen, und ich habe Kopfschmerzen. Ich muss innere Monologe aushalten. Es sind immer zwei Stimmen in meinem Kopf, die Vergangenes analysieren oder Zukünftiges wissen wollen. Die eine Stimme ist süß, die andere brutal ehrlich. Sie schockiert mich. Doch irgendwann wird der Geist müde, und es stellt sich ein Gefühl des Friedens ein. Mir scheint, egal was passiert, mein Vertrauen ist unendlich. Ich nehme mir vor, mich an diese Momente zu erinnern, wenn mir wieder etwas Sorgen bereiten wird.   

Am sechsten Tag gehe ich zu einer anderen, für mich verrückten Morgenmeditation. Das erste Mal halte ich zwei Stunden durch, ohne mich zu bewegen. Eine Schlafmaske über den Augen und Ohrstöpsel helfen mir, mich von den Geräuschen um mich herum besser abzuschirmen. Ich versuche ganz konsequent, auf die Pause zwischen zwei Atemzügen zu hören und frage lautlos in die Stille hinein ‚Wer bin ich?‘. Die zwei Stimmen in meinem Kopf hören auf, viel schneller als sonst. Und dann ist da dieser Ton, wie Tinitus eigentlich, aber nicht unangenehm. All meine Energie versammelt sich im dritten Auge. Es wird richtig heiß auf der Stirn. Ich versuche, die Energie ins Herz zu lenken, was nicht klappt. Anstatt in Panik zu geraten, weil ich denke, dass meine Stirn verbrennt, lehne ich mich innerlich zurück und beobachte einfach, was passiert. Und dann höre ich eine innere Stille, viel stärker, viel tiefer als sonst. Diese Kraft kommt tatsächlich nur aus mir selbst. 

Sahajananda ist Mensch und doch übermenschlich     

Wenn wir jemanden lieben, sind wir voller Liebe. Geht die Person von uns, denken wir, die Liebe geht auch. Nur: Unsere Liebe an eine Person, an eine Situation oder gar an einen Gegenstand zu knüpfen, limitiert schlicht unsere Liebesfähigkeit. „Die Wahrheit ist: Alle Liebe kommt aus einer Quelle. Aus uns selbst“, sagt Sahajananda. Damit gibt er uns den Schlüssel zur Freiheit und zu unendlicher Liebe. Wir müssen niemanden lieben, damit wir Liebe erfahren, denn die Liebe ist ohnehin in uns. Natürlich ist es erst einmal schmerzhaft, wenn eine Liebesbeziehung zerbricht. Aber weder geht die Liebe uns verloren noch werden wir selbst weniger liebenswert. Im Gegenteil: Die volle Liebe entfaltet sich eigentlich erst dann, wenn wir auch den Schmerz umarmen und irgendwann loslassen. 

Für den Abend dürfen wir auf die Liebe meditieren. Ich schließe meine Augen und bin darauf gefasst, dass Bilder meiner Beziehung erscheinen. Doch das Gesicht meiner Mutter ist da. Ich sehe ihren gequälten Ausdruck, weil ich sie wieder vor den Kopf gestoßen habe. Ihr Mund ist verzerrt. Ich beginne, die Glut in meinem Herzen zu beatmen. Die Gesichtszüge meiner Mutter werden ganz weich, und ich empfinde tiefe Liebe für diese Frau. 

An einem Vormittag machen wir rund vierzig Sonnengrüße. Nach dem zehnten herabschauenden Hund habe ich keine Lust mehr. Gleich wird Sahajananda aufhören, denke ich. Aber er macht weiter. Faltet die Hände wieder und wieder, reckt sie nach hinten, schiebt seinen Körper nach unten. Und die Gruppe folgt. Ich merke, wie Wut in mir hochsteigt. ‚Was zum Teufel‘, denke ich. Ich stoppe und schaue Sahajananda verstohlen an, beobachte, wie er sich bewegt. Still, konzentriert, bewusst. Empfindet dieser Mensch jemals Wut? Lässt er sich jemals ablenken? Wie ich so auf sein Gesicht schaue, steigt tiefe Liebe in mir hoch gegenüber diesem Mann, von dem ich denke, dass er irgendwie übermenschlich ist. Ich nehme mir fest vor, von Sahajananda zu lernen. Diese vollkommene Aufmerksamkeit, die er seinen Handlungen schenkt.

Ein Pflänzchen, das gerade erst eingesetzt wurde, braucht mehr Pflege als ein alter Baum, sagt Sahajananda und meint damit unsere Meditation. Sprich: Wer noch nicht viel Übung hat, soll täglich meditieren. Auch wenn es schwerfällt, und keine Zeit dafür da zu sein scheint. Sahajanandas tägliche Worte haben uns berührt. Doch wenn wir in unsere Leben zurückkehren, kann es schnell vorbei sein mit der inneren Gelassenheit und den offenen Herzen. Ich habe Feuer gefangen und schwöre mir, von nun an jeden Tag zu meditieren, das Pflänzchen in mir zum Baum werden zu lassen. Bevor wir zu Bett gehen, gibt uns Sahajananda einen Ratschlag mit: „Es geht gar nicht darum, die Meditation in den Alltag zu integrieren, sondern den Alltag in die Meditation.“  

Der Tod offenbart die ganze Liebe  

Am zehnten und damit letzten Tag spricht Sahajananda über den Tod. Niemals werde die Schönheit des Loslassens, des „Surrender“, so offen dargelegt wie im Augenblick des Todes. Der Körper stirbt. Die letzte Schicht Ego ist abgewaschen, die ganze Liebe entfaltet sich. „Im Westen tabuisieren wir den Tod. Das macht unsere Gesellschaft seicht, oberflächlich fast“, sagt Sahajananda. Zurzeit begleitet er einen sterbenden Freund. Anstatt Trauer empfindet er tiefe Dankbarkeit für die Erfahrung. Die sterbende Person wirkt auf Sahajananda wie ein Katalysator der Liebe. Mehr Wahrheit geht nicht. Mir kommt ein Zitat in den Sinn: „Death is not extinguishing the light; it is only putting out the lamp because the dawn has come“.

Punkt 18:15, nach mehr als zwei Stunden Meditation, schlägt Sahajananda sein Stäbchen gegen die Klangschale. Er sagt leise: „Wir beenden das Schweigen nun.“ Ein paar Minuten vergehen, dann höre ich sich streckende Beine und Arme. Das erste Flüstern – wenig erst, dann immer mehr. Ich lege mich in Embryohaltung auf den Boden, ziehe mir die Schlafmaske hoch in die Stirn, vergrabe das Gesicht in den Händen. Ich nehme wahr, dass Menschen um mich herum sich umarmen. Ich kann gar nicht aufstehen, bin total überfordert und die Tränen kommen. Ans, meine Mattennachbarin, streichelt mir über den Rücken. „You need a hug“, sagt sie. Und tatsächlich. Als ich sie umarme, denke ich, dass ich sie nie wieder loslassen kann. Es tut so unendlich gut, den Körper eines Menschen zu halten, seine Wärme zu spüren, den Geruch einzuatmen. Weil ich sie nicht gehen lasse, umarmen wir uns bestimmt fünf Minuten lang. Dann gehe ich mit einem Tunnelblick an den anderen vorbei. Nur raus, denke ich. Ich ziehe mir Schuhe und Jacke an. Tür auf, dann sind da nur ich und der Sternenhimmel.

Später, als ich wieder in der Halle bin, sehe ich Chan auf ihrem Stuhl kauern. Chan kenne ich, weil sie den gleichen Bus vom Flughafen genommen hat. Ich mache es wie Ans bei mir und sage „You need a hug“. Chan sieht mich an, als wäre ich von einem anderen Planeten. Ich ziehe sie hoch vom Stuhl und lege meine Arme um sie. Und dann beginnt sie zu heulen wie ein kleines Kind, kann gar nicht mehr aufhören. Chan wird später erzählen, dass sie ihr Herz gespürt hat, seit Jahren das erste Mal wieder.

Würden wir nur jeden Augenblick als heilig sehen 

Dann schieben wir unsere Matten zusammen. Wer seine Erfahrungen teilen möchte, setzt sich in die Mitte direkt neben Sahajananda auf ein gelbes Kissen. „Ich muss das erstmal verdauen“, beginnt Paul die Runde. So oft sei er abgedriftet, mit den Gedanken bei seiner Ex-Freundin gewesen, bei dem Kind, das sie verloren haben. Aber er habe versucht, dran zu bleiben. Flavia aus der Schweiz, die jede Meditation absolut vorbildlich durchgehalten hat, hat der Gruppe einen Liebesbrief geschrieben „You are always silent when there is so much noise in me“, beginnt er. Anja, eine Rumänin, sagt: „Es ist mein fünfter Retreat. Meditation ist wie ein Ozean und jedes Mal schwimme ich ein bisschen weiter.“ Irgendwann fasse auch ich mir ein Herz, setze mich in die Mitte. Eigentlich bin ich vollkommen am Ende. Es ist so merkwürdig, auf einmal neben Sahajananda zu sitzen, den ich vorher nur von meiner Matte aus gesehen habe. Seine Augen sind unendlich freundlich. Er wirkt tatsächlich übermenschlich und ist doch aus Fleisch und Blut. Merkwürdig auch, nun zu sprechen. Eine Ahnung habe ich davon bekommen, was Meditation bewirke, wie viel Vertrauen, Liebe in mir sei, sage ich. Eigentlich will ich wieder vom Kissen runter. Aber dann sprudelt es aus mir heraus: Wir machen so viel und reisen so weit im Leben, und schauen doch selten auf das Naheliegendste. Wie unsere Welt wohl aussehen würde, wenn Meditation bereits in der Schule unterrichtet werden würde. Wir würden kaum Gedanken an Sicherheit, Karriere, Partnerschaft oder gar Geld verschwenden. Wir würden jeden Augenblick als heilig wahrnehmen. Wir würden nicht immer nur reagieren. Wir würden einfach sein, wer wir sind. Wir würden lieben, egal, was ist. 

Erst vier Tage später höre ich zum ersten Mal wieder Musik. In einem Lied, schon tausend mal gehört, entdecke ich so viele neue Sachen. So soll es bleiben, denke ich. 

Mehr Informationen zu Hridaya Yoga und dem „Silent Retreat“ findet ihr hier.

Text: Nora Marie Zaremba Illustrationen: Isabel Albertos

Dieser Text ist ursprünglich in LIBERTINE 06 #digital erschienen.