KAPITEL
Savages By Lindsey Byrnes 10

„MACH, WAS DU MÖCHTEST – UNABHÄNGIG VON DEINEM GESCHLECHT!“

Savages sind nicht die wichtigste weibliche Rockband der letzten Jahre, sie verdienen ohne Genderzusatz den Titel als wichtigste Rockband überhaupt. Ihre Liveshows sind das Aufregendste, was die Szene zu bieten hat. Wer sie einmal erlebt hat, ist fasziniert und verwirrt zugleich. Wie kann eine Band so kompromisslos eine Vision verfolgen, die weit über die Musik hinausgeht? Christiane Falk hat dies in Gesprächen und bei Konzertbesuchen herausgefunden.

Endlich ist da mal wieder eine Rockband, die so aufregende Auftritte hinlegt, dass sie keine*n kaltlässt! Hinter Savages stecken die aus Frankreich stammende Sängerin und Textschreiberin Jehnny Beth (geboren als Camille Berthomier), eine Frau von so klassischer Schönheit, dass plötzlich selbst Modemagazine wie die Vogue über sie berichten. Vor allem aber ist Jehnny eine Frontfrau mit dem unbändigen Willen, sich kontinuierlich zu verbessern.

Es geht ihr um das physische Erlebnis eines Konzerts. Die Besucher sollen nicht nur zusehen (und das auch bitte schön ohne Handy in der Hand, darauf weist die Band jeden Abend per Zettel hin), sie sollen sich ganz auf den Sound einlassen. „Ich weiß nicht, warum ich dir das erzähle, aber ich habe vor zwei Jahren mit dem Trinken aufgehört. Nicht dass ich wirklich alkoholabhängig gewesen wäre, aber ich habe jeden Abend zu viel getrunken. Bis ich irgendwann nicht mehr konnte. Ich musste etwas ändern, weil es mir und der Band nicht gut tat. Ich konnte nicht mehr die volle Leistung bringen. Wenn ich mich jetzt auf der Bühne bewege und mit den Fans interagiere, dann bin ich stolz, weil nur ich und die Musik dafür verantwortlich sind, was passiert. Ich mag diese Intensität. Die Klarheit im Kopf bringt mich viel weiter als früher. Ich empfinde unsere Musik nun als noch kraftvoller.“savages_wallpaper_by_tim_4

Fast in jedem Club und auf jedem Open-Air-Festival steigt Jehnny, nachdem sie sich irgendwann ihrer Highheels entledigt hat, barfuß in die Menge und singt den Fans frontal ins Gesicht, greift nach ihren Händen, sucht den körperlichen Kontakt. Spätestens dann gibt es keine Grenze mehr zwischen Band und Publikum. Es ist der Moment, in dem alle im Raum unterschreiben würden, dass sie das Leben genießen – und sei es nur in diesen eineinhalb Stunden Ausnahmezustand.

Links auf der Bühne positioniert sich die stets nach unten blickende Gemma Thompson an der Gitarre, bei den meisten Liedern bearbeitet sie eine 1966er Fender Duo-Sonic, in die sie sich nach einem zweitägigen Probespiel in Paris so sehr verliebt hatte, dass sie sich diese nach einigen Überlegungen von einem Lastwagenfahrer nach London mitbringen ließ und aufgrund des hohen Kaufpreises die nächsten drei Wochen von Porridge lebte.

Fay Milton scheint hinter ihrem Schlagzeug zu verschwinden, bis sie die ersten Takte vorgibt und dann wie eine vor Kraft strotzende Wildkatze präzise um sich schlägt. Bassistin Ayse Hassan steht mit geschlossenen Augen am rechten Bühnenrand und zupft ihren Bass, bis dieser vibriert und dröhnt.

Seit 2011 spielen die vier zusammen, doch bereits davor hatte Gemma Thompson eine klare Vorstellung davon, wie ihre savages_by_lindsey_byrnes_1zukünftige Band zu klingen hätte. Dass Savages eine reine Frauenband werden würde, war nicht geplant, vielmehr ging es ihr um die optimale Besetzung. „Wir haben alle vorher in Bands mit Frauen und Männern gespielt, da kam das Genderthema nie auf. Bei Savages werden wir regelmäßig damit konfrontiert“, erklärt sie, als wir uns unterhalten: „Ich finde, eine Frau muss ein Instrument in die Hand nehmen können, ohne dass das gleich mit ihrem Geschlecht in Verbindung gebracht wird. Wenn also Leute kommen und uns eine feministische Band nennen, weiß ich nicht, was ich antworten soll. Ich glaube daran, dass wir alle gleich sind, und ich habe nie das Gefühl gehabt, dass ich nur, weil ich eine Frau bin, nicht auf diese Art und Weise Gitarre spielen sollte oder dass wir vier Frauen keine Rockband sein können. Es geht schon im Kleinkindalter los, dass einer Dreijährigen gewisse Dinge näher gebracht werden als andere, eben weil sie ein Mädchen ist. Das ist schade. Ich kann nur jeder Frau raten: Mach, was du möchtest, dein Geschlecht spielt bei deiner Entscheidung keine Rolle!“

Zu Zeiten ihres Studiums der Bildenen Kunst lernt Gemma auf unkonventionelle Weise das Gitarrenspiel. Ihr geht es nicht drum, möglichst schnell alle Akkorde richtig zu greifen und erst mal das Handwerk einer klassischen Rhythmusgitarristin zu beherrschen, sie setzt sich stundenlang damit auseinander, kleine Teile aus Songs von Radiohead und Stone Roses zu erlernen. Ihr Ziel war es, die Intensität aus einzelnen Noten herauszukitzeln. Später heuert das aus Frankreich nach London gezogene Paar „John & Jehn“ sie als Noise-Gitarristin an, und irgendwann fragte Gemma Jehnny, ob sie sich vorstellen könne, in ihrer neuen Band zu singen. Sie kann – insgeheim hat sie schon länger gehofft, endlich gefragt zu werden. Als im Mai 2013 das Debütalbum „Silence yourself“ erscheint, haben die Musikkritiker Savages schon längst für ihren kompromisslosen Postpunk abgefeiert. Vergleiche mit Bands wie Joy Division und Siouxsie and the Banshees werden gezogen.

Savages präsentieren harte, kompromisslose Songs, die in manchen Momenten wie Peitschenhiebe wirken und die von Schmerz, Masochismus, Materialismus oder auch Entfremdung handeln. Die Ernsthaftigkeit in Inhalt und Umsetzung der Musik spiegelt die Band auch visuell wider. Das Artwork in Schwarz/Weiß gehalten, alle Bandmitglieder stets in Schwarz gekleidet, besonders die oft androgyn anmutenden Jehnny und Gemma gaben der queeren Community Rätsel auf.

Keine Informationen zum Alter, keine Auskunft zu eventuellen Lebenspartner*innen. Von Jehnny wird bekannt, dass sie an savages_by_lindsey_byrnes_4Heiligabend 1984 in Poitiers, Frankreich, geboren wurde und schon mehr als ein Jahrzehnt mit Johnny Hostile liiert ist, der unter anderem als Produzent der Band fungiert. Gemma hat am 21. April dieses Jahres Sam Sherry geheiratet, Bandmitglied von A Dead Forest Index. In Zeiten, in denen normalerweise alles über jeden im Internet steht, wirken die Informationslücken bei Savages keinesfalls wie ein Spiel, um sich künstlich interessant zu machen. Vielmehr sind sie ein weiterer Beweis dafür, dass es außer Jehnny, die einen Blog betreibt (jehnnybeth.tumblr.com) und seit kurzem eine Radioshow im Apple-Cosmos moderiert (http://apple.co/Beats1), kein Bandmitlied für nötig hält, sich außerhalb ihrer Kunst zu  erklären. Leben und lieben, ohne darüber Rechenschaft ablegen zu müssen, scheint ganz selbstverständlich die Maxime zu sein. Wer braucht da noch Gendereinordnungen.

Nach Tourneen um den gesamten Globus erscheint im Januar 2016 „Adore life“. Ein Album, in dem es jedem der zehn Songs um Liebe geht. Auf dem Cover Jehnnys linker Arm, die Hand zu einer Faust geballt. Ihre beiden Herz-Tattoos auf dem Arm, einmal als Organ, wie man es aus dem Biolehrbuch kennt, das andere so puristisch wie das Kugelschreibergekritzel auf einem Blatt, sind nicht zu sehen.

Jehnny Beth widmet sich nun also doch dem Thema, das sie sich vorher so konsequent verboten hatte. Die große PJ Harvey, die sie als alte gute Freundin bezeichnet, habe über ihre Texte drübergeschaut und Wörter herausgestrichen, berichtet sie. Im kompromisslosen „The answer“ erklärt Jehnny „If you don’t love me, you don’t love anybody!“ und kurz darauf wiederholt sie mantraartig die Zeile „Love is the answer“. Liebe als Antwort auf alles – auf Begierde, auf Leidenschaft, Angst, Abscheu, Gelangweiltsein, Verunsicherung, Homophobie und einigem mehr. Liebe als romantisches Gefühl spart sie aus.

Als Savages kurz nach den Anschlägen von Paris ein intimes Konzert in der Kantine des Berghain- Clubs in Berlin geben, um dort erstmals in Deutschland den Großteil der neuen Songs vorzustellen, kämpft Jehnny bei der Ansage zu „Adore“ dem ruhigsten Lied ihrer Karriere, mit den Tränen.

Das Leben zu genießen, wo noch alle die Bilder der schießenden Terroristen in einem Rockkonzert vor sich sehen, wo Freunde von Jehnny ihr Leben lassen mussten, wo mit den Eagles of Death Metal eine Band auf der Bühne stand, die sie gut kennen, das fällt schwer. Aber da ist sie wieder, die Faust in der Luft, das Bestreben, sich dem Guten zuzuwenden.

Es mögen plakative Statements sein – „Adore life“ und „Love is the answer machen sich gut als T-Shirt-Aufdruck, sie sind die Zeilen, die im Konzert alle mitsingen. Vor allem aber funktionieren sie als Motivation und Grundstein für ein selbstbestimmtes Leben. Savages machen es vor.

Text: Christiane Falk Fotos: Lindsey Byrnes, TIM

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