Sizilien – Geschichte einer Befreiung
Als ich mich letzten Sommer für einen Monat nach Sizilien aufmachte, erwartete ich nicht, dort den offiziellen Anfang der italienischen Gay-Bewegung zu finden. Auf der tiefkatholischen Insel prallen Gegensätze aufeinander: Nonnen ziehen sich – ganz dem Dienste Gottes – hinter dicke Mauern zurück, während neben ihren vergitterten Fenstern die Gay Community der irdischen Liebe frönt. Auf meiner Reise unterhalte ich mich mit denen, die die Früchte der Bewegung ernten, und denen, die sie vor Jahrzehnten säten. Dabei erfahre ich von einer Tochter einfacher Landarbeiter, wie sie früher für ihre Freiheit und die Liebe kämpfte – auch die geschwisterliche.
„Was war nochmal die Fuitina?“, frage ich Signora Graziella im schützenden Schatten ihrer Terrasse. Ich befinde mich in Sizilien, der Region, die laut Goethe den Schlüssel zu Italien darstellt. Wer nicht hier gewesen sei, könne seiner Meinung nach das Land nicht verstehen. „Die Fuitina existiert nur in Sizilien. Sie bedeutet, gegen den Willen der Eltern zu heiraten“, antwortet mir die immer schick zurechtgemachte 64-jährige Sizilianerin.
Ich bin an den südlichsten Punkt von Europa gereist, um herauszufinden, was aus der jungen Generation von damals geworden ist, die Pier Paolo Pasolini in „Comizi d‘amore“ (1964) – Kundgebungen der Liebe – zu ihrer Vorstellung von der Liebe befragte. Der Filmemacher und Poet durfte seine Liebe in den Augen der Gesellschaft nicht leben, weil er schwul war, also fragte er „die Italiener*innen“, was denn dann die Liebe sei. Je weiter er in den Süden und in ländliche Gebiete kam, umso archaischer wurden die Regeln, besonders für die Mädchen. Sie durften abends nicht aus dem Haus und Kontakt zu gleichaltrigen Jungs war untersagt. Liebe galt als etwas, was nach der Ehe wachse, die gleichgeschlechtliche Liebe war ein unbekanntes Phänomen. Ich unterhalte mich mit Signora Graziella, weil ihr Schicksal scheinbar exemplarisch für das tausender Frauen auf Sizilien steht. Wer aber genauer zuhört, stellt fest, dass die kleine Frau, die schon mit 13 Jahren eine Ausbildung zur Schneiderin anfangen musste, oft Entscheidungen fällte, für die es damals Mut benötigte.
Auf dem Land wurde jede Arbeitskraft gebraucht, weswegen die Ausbildung der Kinder auf das Nötigste reduziert werden musste, berichtet mir die Tochter einfacher Landarbeiter. Obwohl zu ihrer Zeit, das heißt 1962/63, die Schulpflicht bis zur mittleren Reife vorgesehen war, konnte Signora Graziella den mittleren Abschluss erst als Erwachsene nachholen. Noch 2013 verließ ein Viertel der Jugendlichen in Sizilien, einer der ärmsten Regionen Italiens, die Schule ohne Abschluss. Beenden sie sie allerdings und studieren, so schneiden die Frauen mit höheren und besseren Abschlüssen als die Männer ab. Meist ziehen sie weg von ihrer geliebten Insel. Wer bleibt, arbeitet oft im Tourismus, da die Region viel zu bieten hat: Naturschutzgebiete, wie Pantalica oder Cavagrande, und architektonisch facettenreiche Städte. Im Laufe der Jahrhunderte versuchten Griechen, Byzantiner, Normannen, Araber und viele andere die strategisch günstige Insel, die von drei Meeren umflossen wird, zu erobern. In Palermo, der regionalen Hauptstadt, wurden Moscheen gebaut, die heute als Kirchen fungieren. In kleinen Dörfern, zumeist in Küstennähe, erheben sich normannische Burgen. Bei Agrigento und Giardini-Naxos können griechische Tempel besichtigt werden. Ohne Auto sind viele der Orte nur schwer zu erreichen. Wer fährt, muss starke Nerven haben. Verkehrsschilder werden von den Einheimischen eher als Vorschläge, denn als feste Vorgaben gesehen. Um morgens in die Gänge zu kommen, wird Granita, Wassereis, gefrühstückt. Mittags sind die Geschäfte geschlossen, weil jede*r isst und dann ein Nickerchen macht. Gegen 16.30 Uhr kommt wieder Leben in die Straßen. Wenn ich mit Signora Graziella auf den höchsten aktiven Vulkan Europas, den Ätna, blicke, kann ich verstehen, dass die Sizilianer nur ungern ihre Insel verlassen.
Ich lenke das Gespräch zurück auf die Fuitina. Signora Graziella erklärt mir, dass das Wort „kleine Flucht“ bedeutet. Pärchen liefen von zu Hause weg und mussten innerhalb von drei Monaten heiraten, um die Ehre der Familie wiederherzustellen. Ein Zurück gab es nicht. Signora Graziella hatte ihren Mann in der Schneiderei, in der sie arbeitete, kennengelernt. Ob sie ihn liebte, kann sie heute nicht mehr sagen. Die Ehe war damals die einzige Möglichkeit, dem strengen Elternhaus zu entfliehen. Töchter – oder genauer gesagt ihre Jungfräulichkeit – wurden wie ein Augapfel gehütet. Signora Graziella war bei der Fuitina 1966 16 Jahre alt, ihr Zukünftiger 32. Mehr Freiheit bekam sie von ihm nicht – im Gegenteil. Sie arbeitete mit ihm in seiner Schneiderei, ohne eine Lira Lohn zu erhalten.
Die in den Medien vermittelte Weiblichkeit in Italien grenzt fast schon an eine Parodie
Laut der aktuellen Studie des ISTAT sind in Sizilien bis heute doppelt so viele Frauen arbeitslos (23,2 %) wie im italienischen Durchschnitt (12 %). Meist leben sie im Prekariat oder werden unterbezahlt. Jede verpasste Chance auf eine Stelle wiegt schwer. Die feministische Aktivistin Sohar Carrion aus Catania berichtet mir, dass Frauen, die sich dem herrschenden Schönheitsideal nicht unterwerfen, oft Jobs mit Publikumskontakt verwehrt werden. Schon in der Stellenanzeige wird eine bella presenza, eine schöne Erscheinung, gefordert. Nach welchem Maßstab sich diese bella presenza richtet und welche Auswirkung dieser auf das Frauenbild hat, verdeutlichte die feministische Autorin Lorella Zanardo in ihrem Dokumentarfilm „Il corpo delle donne“ (2009) – Der Körper der Frau. In ihrem Zusammenschnitt aus Fernsehshows vermittelte sie teils schockierend, wie Frauen ihren Körper instrumentalisieren, um sich einem Mann unterzuordnen. Sie machen in winzigen Kleidchen mit hohen Absatzschuhen Hündchen oder funktionieren sich zu Tischbeinen um. Die in den Medien vermittelte Weiblichkeit in Italien grenzt fast schon an eine Parodie.
„Es war verrückt“, berichtet mir Signora Graziella sichtlich bewegt. „Einerseits war mein Mann stolz darauf, dass ich eine hübsche Frau war, andererseits war er unglaublich eifersüchtig und schnitt mir sogar die Haare ab, damit ich weniger auffiel.“
Die Söhne, vor allem auf dem Land, wurden damals zum padre e padrone, Vater und Herr, erzogen. Padrone heißt zugleich auch Besitzer. Die Töchter und Frauen waren die Ehre der Familie, die es zu verteidigen galt. Nach 16 Jahren trennte Signora Graziella sich von ihrem Mann und erzog ihre Kinder danach freier. Der Schritt kostete sie viel Energie, da sie vom Staat kaum finanzielle Unterstützung erwarten konnte und ihr Ex-Mann viel zu wenig Alimente zahlte. Teilweise hatte sie drei Arbeitsstellen gleichzeitig. Es scherte sie nicht, was die anderen von ihr dachten, sie wollte ihre eigene Herrin sein. Abends ließ sie ihre Töchter zu zweit aus dem Haus und legte großen Wert auf ihre Bildung. Mut, gegen den Strom zu schwimmen, bewies sie auch, als sie als Einzige von acht Geschwistern ihren Bruder, der als Schwester zurück aus dem Norden kam, bei sich aufnahm.
„Mein Bruder Salvatore ist sehr jung allein nach Turin gegangen. Das war damals freier“, berichtet sie mir. „Erst nach Jahren kam er – oder besser: sie – zurück. Mit langen blonden Haaren und großen Brüsten stieg Betty aus dem Zug. Sie müssen sich das mal vorstellen! In Sizilien! In den Siebzigern!“
In Giarre nahm die Gay-Bewegung ihren offiziellen Anfang
Eine couragierte Tat, da Homosexuelle damals häufig von ihren Familien mit dem Tod bedroht wurden. Sichtbar wird dies auch in der Stadt, in der Signora Graziella zu der Zeit lebte: Giarre. Es ist die Stadt, in der die Gay-Bewegung wegen eines bis heute ungeklärten Verbrechens ihren offiziellen Anfang nahm. Zwei junge Männer, Antonio Galatola (15) und sein Freund Giorgio Agatino Giammora (25), wurden 1980 Hand in Hand tot aufgefunden. Der 12-jährige Cousin des Jüngeren soll die beiden, da sie keine Zukunft für ihre Liebe sahen, auf ihren Wunsch hin durch Kopfschüsse getötet haben. Unklar bleibt, ob die Familien der beiden den damals strafunmündigen Jungen als „Mordwaffe“ instrumentalisierten oder wer wirklich dahintersteckte. Journalist*innen aus ganz Italien zog das Drama an, wodurch die real gelebte Homosexualität in Italien so viel Sichtbarkeit erhielt, dass man sie nicht mehr länger totschweigen konnte. Bei den Befragungen in der 28.000-Einwohner-Stadt wusste niemand etwas. Omertà wird dieses Schweigen genannt. Ein offen schwuler Priester brach es. Der Geistliche Marco Bisceglia war der katholischen Kirche durch seinen Einsatz für die Einführung des Scheidungsrechts schon ein Dorn im Auge. Als er 1975 zwei angebliche Schwule, die eigentlich Journalisten einer rechten Zeitung waren, in einer privaten Zeremonie traute, enthob die Kirche ihn seines Amtes. Er hatte also nichts mehr zu verlieren und gründete als Reaktion auf die Ermordung des Pärchens im gleichen Jahr den Verband Arcigay, das italienische Pendant zum LSVD.
Eine Entwicklung, die den Kämpfen in ganz Italien, vor allem in den 70er Jahren, vorausging. In Palermo fand 1981 Italiens erster offizieller Gay Pride unter dem Titel „Fest des homosexuellen Stolzes“ statt. Dies berichtet mir einer, der die gesamte Bewegung vorantrieb: der Präsident des Arcigay Catania und nationaler Berater des Arcigay Dr. Giovanni Calogero. Ich treffe ihn im Sitz des Arcigay Catania, dem Pegaso, das zugleich auch Anlaufstelle für medizinische Vorsorge, Übernachtungsstätte in Krisenfällen und Club ist. Der fast 70-Jährige erklärt mir, dass er in extremen Fällen auch als Mediator auftritt und zum Beispiel zwischen Eltern und Kindern vermittelt. Jährlich organisiert der studierte Philosoph mit seinen Mitstreitern den Onda Pride, eine Gay-Pride-Welle, die sich über ganz Italien zieht.
In der überwiegend aus Lavastein gebauten sizilianischen Stadt Catania bewegt sich die LGBTIQ*- Community am offensten. Gegensätze prallen aufeinander: Nonnen leben hinter vergitterten Fenstern in Klausur, während sich daneben die Community trifft. Ausgangspunkt war die Eröffnung der anarchistischen Bar „Nievski“ im Jahre 1986, in der Via Alessi, in der nicht nur Intellektuelle, Linke und Anarchisten zusammenkamen, sondern auch die, die nicht der Heteronorm entsprachen. Dies berichtet mir der Künstler Sebastiano Impellizzeri, der sich mit dem verschwindenden Phänomen der Battuage, dem Cruising, beschäftigt. Ihn fasziniert, wie öffentliche Orte, wie beispielsweise die Treppe vor der Bar „Nievski“, die durch die engen und hohen Mauern vor Blicken geschützt ist, von Menschen genutzt werden, um eine neue Liebe zu finden oder filmreife Dramen auf den Stufen aufzuführen – ohne dass die Passanten etwas davon mitbekommen.
Es bewegt sich etwas im katholischen Italien und auf der Insel, wo die Gay-Bewegung ihren offiziellen Anfang nahm – das überträgt sich auch ins Fernsehen und damit in die öffentliche Wahrnehmung. Letztes Jahr wurde die eingetragene Lebenspartnerschaft eingeführt, allerdings ohne das Recht auf eine Stiefkindadoption. Mittlerweile haben nicht nur die großen Städte wie Palermo, Catania oder Messina LGBT-Clubabende zu bieten, auch in Trapani, Ragusa und Siracusa finden sich gayfriendly Bars. Letztere sind Ausdruck der neuen Entwicklung, sich nicht mehr in Kategorien verschließen zu wollen, wie ich in Gesprächen mit der jungen Generation feststellen kann. Häufig nutzt sie Dating-Portale, wo jede*r sich selbst nach seinen oder ihren sexuellen Präferenzen einordnet. Selten wissen die Eltern davon.
Letztes Jahr organisierte Dr. Calogero die Diskussionsrunden vor dem Gay Pride im Rotlichtviertel von Catania, San Berillo, wo Transsexuelle und Transvestiten arbeiten. Sie standen dort, wo die Homosexuellen vor 30 Jahren standen. Mittlerweile haben in San Berillo auch ein paar Cafés und Bars eröffnet, um den „Glühwürmchen“, wie sie genannt werden, neue Perspektiven zu eröffnen. Signora Graziella wäre dort gerne mit ihrer Schwester Betty ausgegangen, leider ist sie bereits 1988 verstorben. Dieses Jahr jährt sich ihr Todestag zum 30. Mal. Seitdem hat sich viel geändert, weil es hier nicht nur im Ätna brodelt, sondern auch in den Menschen.
Text und Fotos: Suzan Kizilirmak