KAPITEL
Utopia1

Utopia Reloaded – Ein bedingungsloses Grundeinkommen ist erst der Anfang

Utopien erscheinen uns dieser Tage als vergessen geglaubte Erinnerungsstücke vergangener Zeiten. Eine Politik des „Weiter so“ überschattet innovative Visionen für eine Gesellschaft, die sich mit einer anwachsenden Breite politischer Krisenherde konfrontiert sieht. Eine Lösung könnte das viel diskutierte bedingungslose Grundeinkommen sein – aber ein Grundeinkommen allein reicht nicht, es bedarf einer gesellschaftlichen Neuerzählung.

Utopia – Ort des Wohlstands. Ort der Freiheit. Ort der Sorgenlosigkeit. Aber, seinem Namen nach, ein unerreichbarer Ort. Der Inselstaat, der vor fast 500 Jahren aus der Feder des britischen Autors und Staatsmannes Thomas Morus stammt, begründet bis heute einen einmaligen Meilenstein in der Utopien-Geschichte und ist zugleich deren Anfang. Beherbergte dieses fantasievolle Eiland eine Gesellschaft, in der keine Klassen und Armut herrschten, deren Mitglieder täglich nur bis zu sechs Stunden arbeiten durften, in der kein Geld und kein Privateigentum existierte, erschien sie den feudalherrschaftlichen Verhältnissen, die zu Morus’ Lebzeiten herrschten, umso ferner. Und dies ist ein zentrales Erkennungsmerkmal vormoderner Gesellschaftsutopien – was sie von real existierenden Gesellschaftsformationen unterscheidet, ist eine unüberbrückbare räumliche Distanz, eine von tosenden Wellen umschlossene Insel, die kein Mensch je erblickt hat, eine sehnsuchtsvolle Fantasie, die nur in unseren Köpfen existiert. Das änderte sich mit Anbruch der Moderne – die Utopie, nun nicht mehr ortsgebunden, verlagerte sich in die Zukunft und transformierte sich zu einem Endzustand einer idealen gesellschaftlichen Ordnung, die es zu erreichen galt. Trotz fortbestehender Distanz zwischen Realität und utopischer Zielvorstellung lag in ihr nun eine erstrebenswerte Vision, für die zu kämpfen es sich lohnt. Eins haben jedoch alte wie auch neue Utopien gemein: kritisiert wird immer der gesellschaftliche Ausgangszustand, jedoch nie ohne gleichzeitig einen visionären Gegenentwurf zum Ziel zu haben.

Schluss mit der Politik des Aussitzens – Zeit für neue Utopien

Ein Blick in die Gegenwart könnte den Eindruck verschaffen, man hätte uns der Fähigkeit utopischen Denkens und Handelns beraubt. Menschen, die als Utopist*innen bezeichnet werden, werden auf dieselbe Stufe mit realitätsfernen Bewohner*innen des Wolken-Kuckucks-Heims positioniert. Nach dem Zweiten Weltkrieg, den Schrecken des Nationalsozialismus und des Stalinismus wie auch später des Zusammenbruchs des sogenannten real existierenden Sozialismus war es um die Utopie geschehen. Sie geriet automatisch unter totalitaristischen Verdacht. Ein kapitalistisch organisiertes

Gesellschaftssystem galt und gilt noch immer als einziges nicht ideologisches Heilsversprechen. Doch mit einer Politik des Verwaltens und Aussitzens in Zeiten der multiplen Krisenherde, wie eine zunehmende soziale Ungleichheit, einem wachsenden Missbrauch ökologischer Ressourcen und einer Salonfähigkeit rechtspopulistischer Gesinnungen, ist das Bedürfnis nach neuen Utopien größer denn je.

Und das mit Recht! Was wir dieser Tage brauchen, sind politische Gegenerzählungen. Ausschließliche Kritik, ein kurzer Tweet hier, eine kleiner trauriger Emoji dort – all das reicht nicht mehr aus, um die uns bevorstehende gesellschaftliche Transformation in eine Richtung zu lenken, von der nicht nur eine winzige Minderheit profitiert bzw. darunter am wenigsten leidet, sondern die möglichst allen ein würdiges Leben und eine soziale Teilhabe verspricht. Denn dass wir uns mitten in einem Umbruchprozess befinden, ist keine Ansichtssache. Ein Blick in unsere überfüllten Social Media Timelines genügt, um sich dessen bewusst zu werden. Die einzige Frage ist: Wie gestalten wir diesen Umbruch, wie schaffen wir eine Zukunftserzählung, die die toxische Wirkung der ewigen Polarisierungen von arm und reich, einheimisch und fremdländisch, weiblich und männlich, produktiv und unproduktiv, öffentlich und privat durchbricht und einen Raum für möglichst viele Menschen und Lebenskonzepte eröffnet?

Keine Leistung gegen Lohn?

Ein Aspekt dieses Wandels, an dessen Türschwelle wir bereits stehen, könnte das Ende der Erwerbsarbeit sein, hervorgerufen durch eine zunehmende Digitalisierung und Robotisierung aller Lebensbereiche. Gegenwärtig beschäftigt uns in diesem Zusammenhang besonders eine Problematik, die die politische Theoretikerin und Philosophin Hannah Arendt bereits in den 1950ern Jahren benannte: Was passiert, wenn einer Gesellschaft, die sich seit mehreren hundert Jahren über Lohnarbeit definiert, eben diese auf kurz oder lang ausgeht? Wie kann verhindert werden, dass der gesellschaftliche Zusammenhalt infolgedessen erodiert, das Armutsgefälle überproportionale Dimensionen annimmt und das Grundgesetz nicht letztlich zu einer leeren Aneinanderreihung von Worten verkommt?

Eine verheißungsvolle und gleichzeitig kontrovers diskutierte Lösung bietet das bedingungslose Grundeinkommen. Ein monatlich ausgezahlter Geldbetrag, ganz ohne jede Gegenleistung und ohne jeden Bedarfsnachweis, der bisher für Bezieher*innen von Sozialleistungen nicht selten mit einer Totalentblößung ihres Privatlebens einherging. Tropen des „Sozialschmarotzers“ oder des „Drittmittelabzockers“ verlören damit ihre symbolische Wirkmacht. Ein Hoffnungsschimmer für eine Gesellschaft, in der Menschen nicht mehr dazu gezwungen würden, jeden noch so unliebsamen Job nachzugehen, um sich mehr schlecht als recht über Wasser halten zu können. 

Bedingungsloses Grundeinkommen also – da erscheinen Bilder vor dem inneren Auge; Bilder von Menschen, die sich lang gehegte Wünsche erfüllen, sich nun frei entfalten können, oder aber solche, in denen Menschen faul oder gar depressiv in ihren Wohnungen sitzen, nicht wissend, was sie mit all der vormals mit Arbeit gefüllten Zeit anfangen sollen. So unterschiedlich diese Imaginationen sind, so unterschiedlich sind auch die An- und vor allem Absichten unter Grundeinkommensbefürworter*innen. Mögen Befürworter*innen des bedingungslosen Grundeinkommens wie der Telekom-Chef Timotheus Höttges sich wohl weniger für die Utopie einer gerechter werdenden Gesellschaft in Zeiten der Industrie 4.0 begeistern und wohl eher ein neoliberales, nicht existenzsicherndes Grundeinkommensmodell wie auch eine gleichzeitige Streichung ihrer arbeitgeberischen Pflichten vor Augen haben, fordern Linke ein existenzsicherndes Grundeinkommen geknüpft an einen umfangreichen Ausbau des Sozialstaats wie auch einer Kürzung der Arbeitszeit und einer Erhöhung des Mindestlohns. 

Während Umsetzungsstrategie Nummer eins an den Anfang eines dystopischen Alptraums erinnert, klingt Nummer zwei umso progressiver – aber auch diese folgt einer Argumentation, die nicht selten eine feministische Betrachtungsweise außen vorlässt.

„Wir haben genug Arbeit, wir haben nur nicht genug von der Sorte Arbeit, die sich verkaufen lässt.“

Die promovierte Politikwissenschaftlerin und Publizistin Antje Schrupp ist Teil eines feministischen Netzwerkes, das sich schon seit Anfang der 2000er Jahre mit dem bedingungslosen Grundeinkommen auseinandersetzt. Ziel war und ist es, dieses für den feministischen Diskurs fruchtbar zu machen, und umgekehrt, eine feministische Perspektive in die Grundeinkommensdebatte zu bringen. Das gängigste Ausgangsargument, welches von vielen Grundeinkommensanhänger*innen aus den unterschiedlichsten politischen Lagern hervorgebracht wird, das Ende der Arbeit, geht ihr zufolge von einer völlig falschen Prämisse aus. So stellt Schrupp verärgert fest: „Wir haben genug Arbeit, wir haben nur nicht genug von der Sorte Arbeit, die sich verkaufen lässt.“ Unbeachtet blieben mit einer solchen Annahme eine Vielzahl reproduktiver Formen der Arbeit, die für die Wiederherstellung und Aufrechterhaltung von Erwerbsarbeit und gesellschaftlichem Leben per se unabdingbar seien, ja diese überhaupt erst möglich machten. Die Sorte Arbeit also, die meist unbezahlt bzw. schlecht bezahlt im Privaten stattfindet und nach wie vor überwiegend von Frauen ausgeübt wird. Kurz gesagt: kochen, putzen, Kinder großziehen und erziehen, Ehemänner*frauen oder Freund*innen beglücken, alte Menschen pflegen etc. 

Schrupp verweist in diesem Kontext vor allem auf einen Wirtschaftsbegriff, der nur den Bereich ins Blickfeld rücke, in dem Geld fließe, und damit so zu völlig falschen Ergebnissen komme. Werde Produktivität automatisiert, könne man nach dieser Sichtweise zu dem gefährlichen Zirkelschluss kommen, dass menschliche Arbeit auf kurz oder lang zu einem Fremdwort werde. Der arbeitslos gewordene Homo Oeconomicus, stets autonom und unabhängig, hat nun mit dem Grundeinkommen die einmalige Chance sich frei zu entfalten, sich noch mehr vom gesellschaftlichen Beziehungsgefüge zu emanzipieren und zu optimieren – generell sein Selbst auf eine höhere Stufe zu transformieren. Die Verteilung von Pflege-, Fürsorge- und Haushaltsarbeit ist auch in dieser Vorstellung nicht der Rede wert, schließlich werden die „unsichtbaren Hände“, die diese zuvor ausgeführt haben, nun sogar „bezahlt“ – erlangt doch jede*r ein Grundeinkommen.

Wer macht die liegengebliebene Arbeit in einer „arbeitslosen“ Gesellschaft?

Diese einseitige Sicht tappt nicht nur in die viel beschworene Falle der patriarchalen Zweiteilung zwischen „männlicher“ Produktions- und „weiblicher“ Reproduktionsarbeit, sondern stellt uns mit einer Einführung des bedingungslosen Grundeinkommens vor ein nicht unwesentliches Problem. So betont Antje Schrupp: „Die Bedingungslosigkeit des Grundeinkommens bedeutet eben, dass das Grundeinkommen an keine Bedingungen geknüpft ist, auch nicht an die, dass sich Frauen oder andere Familienangehörige generell um alte und kranke Menschen kümmern.“ Eine zweiseitige Medaille. So wird die bezahlte und unbezahlte Reproduktionsarbeit nun endlich nicht mehr zur reinen Frauensache gemacht. Gleichzeitig eröffnet sich aber eine nicht leicht zu beantwortende Frage: Wer fühlt sich in einer Gesellschaft, in der jeder Mensch ein Recht auf ein bedingungslos ausgezahltes, existenzsicherndes Grundeinkommen hat, noch für seine Mitmenschen verantwortlich? 

Um diese Frage zu beantworten, reicht ein Grundeinkommen allein nicht aus. Dieses kann letztlich nur in Verbindung mit einem gesamtgesellschaftlichen Umdenkprozess, einer neuen Utopie, festgefahrene Strukturen ins Wanken bringen. Der Journalistin Antje Schrupp zufolge könne dieser in der Schaffung eines wahrhaftig freien Marktes seine Initialzündung finden. Wer jetzt, ob dieser vermeintlich wirtschaftsliberalen Forderung, in wutentbrannte Schnappatmung verfällt, sei entwarnt. Denn, so Schrupp: Der in neoliberalen Konzepten angepriesene „freie Markt“ sei in Wirklichkeit ein regulierter, zugunsten einer kleinen Minorität reicher Menschen. Ein im buchstäblichen Sinne freier Markt mache dagegen jegliche Formen der Tauschbeziehungen sichtbar und vereinige sie zu einem vielfältigen Ganzen. Neben einem klassischen geldbasierten, unpersönlichen Tausch trete dann auch der tägliche Handel zwischen Liebespartner*innen, die sich gegenseitig Liebe, Anerkennung und Respekt schenkten, die Beziehung zwischen Ehrenamtler*in und Klient*in, in der Hilfe und Fürsorge gegen Anerkennung gehandelt würden, oder aber die Tauschbeziehung zwischen Mutter und Kind, in der z. B. Sorge und Zuwendung gegen Gehorsam ausgetauscht werden könne. Ein solcher Marktbegriff könne, verbunden mit einem bedingungslos ausgezahlten Grundeinkommen, die menschliche Bedürftigkeit und Interdependenz sichtbar machen.

Er stößt uns auf unsere Verletzlichkeit, unsere vielfältigen Abhängigkeiten, unsere Verpflichtungen und Verantwortungen, die uns nicht unfrei machen, sondern uns im Gegenteil zu einem sozialen Wesen werden lassen, welches sein Leben lang kostenlose Zuwendung benötigt und diese im Gegenzug an anderer Stelle zurückgeben muss. Sie befreit uns von dem zeitgenössischen Individualisierungs- und Konkurrenzdruck, der schwer auf uns lastet. Halten wir uns dies vor Augen, wird die kapitalistische Ideologie eines unabhängigen, sich von sozialen Abhängigkeiten freikaufenden Individuums ad absurdum geführt.

Die Kombination aus einem dem linken Umsetzungsmodell entsprechenden bedingungslosen Grundeinkommen, das sowohl ein würdiges Leben als auch eine gesellschaftliche Teilhabe verspricht, und einem aktualisierten Wirtschaftsbegriff, der die menschliche Bedürftigkeit als Ausgang jeglicher ökonomischer Überlegungen und Handlungen nimmt, schränke die Allmacht des Lohns und den über ihn ausgeübten Zwang zu unwürdigen Arbeiten ein. Mit einer so gestalteten Gesellschaft müsse sich in Zukunft ein*e jede*r fragen, was das Sinnvolle und Notwendige an der eigenen Arbeit sei. So stellt Schrupp trocken fest: „Dann ist halt die Frage, ob die Fabrik von irgendeinem*einer Kapitalist*in z. B. gegen einen schicken Frauenbuchladen gewinnen kann, wenn ich die Wahl habe, in dem einen für 8€ und in dem anderen für 10€ zu arbeiten, entscheide ich mich doch eher für den Frauenbuchaden.“ Dies sei ein Beispiel für einen Markt, auf dem neben dem Geld auch andere Tauschmittel zum Tragen kämen wie Freundschaften, Sinn und Wohlbefinden. Das bedingungslose Grundeinkommen versetze die Menschen in die Lage „Nein“ zu Arbeitsplätzen zu sagen, die ihren eigenen Bedürfnissen widersprächen bzw. die Arbeitsbedingungen für eine solche Arbeit aus einer gestärkten Position heraus zu ihren Gunsten zu verhandeln. 

Wie? Wann? Aus welcher politischen Motivation und ob überhaupt ein bedingungsloses Grundeinkommen umgesetzt wird, steht bis heute in den Sternen. Klar ist jedoch bereits jetzt, dass ein Grundeinkommen kein automatisches Glücksversprechen sein kann, sondern in eine utopische Gegenerzählung eingebettet sein muss, die die Bedürfnisse aller Mitglieder dieser Gesellschaft anvisiert. So realitätsfern dieser Wunsch noch erscheinen mag, ist es uns allen möglich, heute schon kleine Schritte in diese Richtung zu setzen. So beteuert auch Antje Schrupp: „Was die Vision betrifft, plädiere ich immer dafür eine utopisch klare und reine Form zu vertreten, aber gleichzeitig auch nach praktikablen Schritten zu suchen, wie diese bereits im Alltag zu implementieren ist, ohne dabei direkt ein Gesamtkonzept vor Augen zu haben.

Text: Lena Spickermann Illustrationen: Daavid Mörtel

Dieser Text ist erstmals in LIBERTINE 07 #Glück erschienen. Alle bisherigen Printausgaben sind hier erhältlich.