KAPITEL
Inneres Team.screen

Authentische Entscheidungen – Wie du die besten Antworten in dir selbst findest

Wir wissen längst: Kommunikation und Teamarbeit sind das A und O. Wer sein Gegenüber nicht versteht, hat schlechte Karten. Doch mit uns selbst kommunizieren wir häufig viel schlechter als mit anderen. Dabei haben wir alle ein inneres Team, mit dem wir lernen können umzugehen. Wie im Kindergarten reden unsere verschiedenen inneren Stimmen manchmal alle durcheinander, sind gemein oder unvernünftig. Unsere Autorin Miriam Galler hat sich mit der Psychologin Dagmar Kumbier getroffen und viel Neues über die menschliche Psyche – und damit auch über sich selbst – erfahren.

Vor ein paar Jahren kam ich an den Punkt, an dem ich mich und alles um mich herum zu hinterfragen begann. Ich entwickelte einen enormen Drang, mir selbst auf den Grund zu gehen, um ein Leben zu gestalten zu können, das auch meinem Ich entsprach. Die Angst, irgendwann einmal in eine Midlife-Crisis zu geraten, stürzte mich in die neumodische Quarterlife-Krise: Ich hatte das Gefühl, genau jetzt stehe alles auf dem Spiel, jetzt müssten die Weichen gestellt werden, um ein erfülltes Leben aufzubauen und nicht mit Mitte 50 geplatzten Träumen hinterherzutrauern. Die Persönlichkeit, die Karriere, die Liebe – alles wurde zur Baustelle. In mir meldeten sich plötzlich ganz viele Stimmen.  Bei meiner Reise zu mir selbst konnten mir weder meine Freund*innen noch meine Familie helfen. Es wäre mir unangenehm gewesen, mit ihnen über Ängste zu sprechen, die ich nicht einmal selbst einordnen konnte. Vielleicht hätten sie mich und mein Stimmengewirr auch gar nicht verstanden. Manchmal hilft es nur, mit Fremden zu reden, dachte ich mir, und begab mich Experten-Hand.  Psychoanalyse macht deinen Geist wahnsinnig. Und auch wahnsinnig aktiv. Das war mein Kopf zwar schon immer, doch jetzt fühlt es sich an, als hätte ich drei, vier oder fünf davon. Na toll, ich habe eine multiple Persönlichkeitsstörung. „Nein, Sie sind nicht verrückt“, versichert mir mein Therapeut. „Da melden sich jetzt nur viele Stimmen aus Ihrem Unterbewusstsein, die lange nicht gehört wurden.“ Normalsterbliche* nutzen circa 7% ihres Gehirns. Bei Albert Einstein waren es noch 1 bis 3% mehr. Ich habe das Gefühl, ich laufe auf 100. 

„In der Entdeckung der inneren Vielstimmigkeit und Konflikthaftigkeit des Menschen durch Sigmund Freud liegt der Ursprung der Psychotherapie“, lautet der erste Satz in Dagmar Kumbiers Buch „Das Innere Team in der Psychotherapie“. Im nächsten Absatz heißt es: Und in „[…] seiner Entdeckung des Unbewussten und damit der Tatsache, dass der Mensch nicht ,Herr im eigenen Haus‘ ist, sondern beim Fühlen, Denken und Handeln durch eine Vielzahl von Kräften beeinflusst wird, die er weder kennt noch bändigen kann […]“.

Das kommt mir bekannt vor.

In meinem Gespräch mit der Autorin lerne ich, warum das Gefühl der Ambivalenz nicht die Ausnahme, sondern der Normalzustand des menschlichen Geistes ist, warum es selten Lieblingsentscheidungen gibt und warum jede*r die Qualitäten einer guten Führungskraft braucht.

Miriam Galler: Ich empfinde mittlerweile ganz häufig Druck dabei, mich zu entscheiden. Denn ich weiß, ich allein habe meine Zukunft in der Hand. Wenn etwas schiefgeht oder ich unglücklich mit meiner Entscheidung werde, trage ich auch die Schuld. Scheinbar ist diese Verantwortung für mich zu überfordernd. Bei der Suche nach meinem wahren Ich und nach dem, was dieses Ich denn nun genau will, brach auch viel Chaos über mich herein.

Dagmar Kumbier: Die Suche nach dem Ich ist ja erst mal etwas Wunderbares! Das Problem sind vielmehr die Ansprüche, die an dieses Ich gestellt werden. Bei einigen meiner sehr jungen Klient*innen scheint es mir, als würden sie den Satz „Tu, was du wirklich möchtest!“ als einen strengen Auftrag verstehen. Sie denken: Wenn ich etwas wähle, muss ich auch super glücklich und zufrieden damit sein. Und zwar immer und durchgehend. Ich habe manchmal das Gefühl, dass das eine Falle ist und zwar eine, die extrem schwer zu erkennen ist. Der Satz an sich hat ja nichts Schlimmes an sich, er ist ja ganz im Gegenteil sehr schön. Aber die Vorstellung, man müsse ständig glücklich sein und mit sich selbst im Einklang fühlen, setzt Maßstäbe, die schwer zu erreichen sind. Denn sie können erstens kein Dauerzustand sein und machen zweitens paradoxerweise gar nicht immer glücklich. Das ist sehr verwirrend.

MG: Es gibt so viele Möglichkeiten, das eigene Leben zu gestalten. Das ist natürlich toll, aber ohne zu wissen, was man will oder kann, wird es schwierig. Hinzu kommen die sozialen Netzwerke, die die idealen Auslöser für Komplexe sein können. Da sehe ich, welche tolle Party ich verpasst habe, welche*r Bekannte gerade wieder 1.000 Likes erhalten hat, welche*r nach dem Aufwachen aussieht wie Schneewittchen und welche*r die süßesten Kinder hat. Scheinbar sind alle etwas glücklicher, erfolgreicher, kreativer als man selbst.

DK: Ihr Profil wirkt auf andere vermutlich ganz genauso. Das Problem mit sozialen Medien ist, dass man dort nur die – aufpolierten – Sonnenmomente zeigt. Da fühlt sich die Ich-Sucherin im Vergleich dann ganz schnell mickrig. Meiner Meinung nach findet man in diesen Neuen Medien keine Identitäten. Identität hat immer auch mit dem Kontakt zu anderen zu tun und damit, um Dinge zu ringen, zu scheitern, zu suchen, Umwege zu gehen und daraus zu lernen. Niemand fühlt sich immer perfekt, jede*r hat Selbstzweifel und schlechte Zeiten. Jede*r denkt manchmal: Oh Gott, bin ich wirklich so mickrig? Der Unterschied ist nur: Den einen ist es bewusst, den anderen nicht. Die einen geben es zu, die anderen nicht.

MG: Das hängt ja auch alles in gewisser Weise von der Tagesverfassung ab. Mal sind mir die Profile der anderen schnurzegal und ich sage mir: „Meine Güte, manche Leute haben 24 Stunden den Live-Stream laufen. Wen interessiert das alles?“ Ein andermal hänge ich Sonntagabend am Handy und denke: „Mann, ist mein Leben langweilig!“ Irgendwie ist das doch auch ambivalent, oder?  Apropos Ambivalenz: Zügig Einschlafen – egal wie müde – war noch nie meine Stärke. Kopfkino und das sogenannte Überdenken hingegen sehr. Dabei meinte Alain de Botton, mein Lieblingsphilosoph, einmal, dass es so etwas wie overthinking gar nicht gäbe, sondern nur thinking badly. Man kann also nicht zu viel denken, man kann nur schlecht denken. Ich glaube dennoch, dass ich die Dinge, die mich beschäftigen, zu sehr zerkaue. Wie ein gedanklicher Wiederkäuer. Dabei verstricke ich mich schnell in ambivalente Gedanken. Mal sind die Freund*innen, der Job und die kleine Ein-Raum-Wohnung ziemlich toll, mal ist das alles nicht genug und man möchte die Zeit zurückdrehen und (fast) alles anders machen. Ambivalenz ist für mich etwas ganz Furchtbares. Ich verbinde damit eine innere Zerrissenheit.

DK: Prinzipiell denke ich, dass die Ambivalenz der Normalzustand ist und der Flow die wunderbare Ausnahme. Für viele gibt es nur schwarz oder weiß: Alles ist wunderbar oder alles ist schrecklich. Aber das Mittelfeld, in dem alles okay ist – mit leichten Ausschlägen nach oben oder unten –, ist eigentlich der menschliche Normalzustand. Und gerade den empfinden viele als ungenügend. Auch in Beziehungen: Wenn man lange genug mit jemandem zusammen ist, dann erlebt man unweigerlich, dass der Traumprinz oder die Traumprinzessin die Socken liegen lässt, nicht zuhört oder auch mal total bescheuert reagiert.

Wenn man lange genug zusammen ist, wird man Phasen haben, in denen man denkt, man habe einen Fehler gemacht, die falsche Wahl getroffen. Phasen, in denen man einfach nur noch weg und vielleicht auch jemand anderen will. Ich halte diese Ambivalenz für absolut normal und auch gesund. Gesundheit heißt auch, das aushalten zu können und nicht zu denken, die Dinge müssten ständig eindeutig sein. Insofern erzeugen auch die auf perfekt getrimmten Bilder auf den Social-Media-Profilen ein unrealistisches Bild von Normalität.

MG: Ich habe das Gefühl, Menschen fragen sich viel zu selten, was sie selbst ausmacht, wie sie behandelt werden möchten oder wo sie eigentlich hinwollen. Ich selbst musste das auch erst vor Kurzem lernen. Geholfen hat mir dabei mein Team: Ein Kollektiv aus Persönlichkeitsteilen, in dem ich das Oberhaupt bin. In diesem Team müssen wir nur richtig kommunizieren und Entscheidungen treffen. Meine Teammitglieder möchten gehört werden, denn sie haben unterschiedliche Charaktere mit unterschiedlichen Bedürfnissen und Gefühlen, Zielen und Wertvorstellungen und je einer eigenen Geschichte, wie ich aus Ihrem Buch gelernt habe. Kann denn ein Oberhaupt gewählt werden? Kann ich bestimmen, dass die Stolze oder die Leidenschaftliche die Führung über alle anderen Teammitglieder übernehmen soll?

DK: Das Oberhaupt kann nicht gewählt werden. Das Oberhaupt hat die Aufgabe, alle Teammitglieder wahrzunehmen und zu würdigen. Es ist aber mit keinem von ihnen identisch. Das Oberhaupt ist eine ganz andere Energie. Es ist vergleichbar mit dem Zustand, auf den sie beispielsweise in der Meditation zielen. Sie nehmen alle Gefühle und Gedanken wahr, kämpfen nicht dagegen an und verschmelzen nicht mit ihnen. Sie nehmen wahr und lassen vorbeiziehen, sie sind einfach nur „Selbst“. Dieser Zustand kommt dem Oberhaupt sehr nah. Das Oberhaupt ist wie ein innerer Beobachter, kann aber durchaus eingreifen. Man kann sich das Oberhaupt auch als ideale Chefin vorstellen. Die ist manchmal diplomatisch, manchmal aber auch sehr deutlich. Sie nimmt alle wahr, heißt alle willkommen und nimmt auch alle ernst. Oder wie ideale Eltern, die trösten und schützen, aber auch begrenzen.

MG: Wie treffe ich eine gute Entscheidung mit meinem Team?

DK: Der erste Schritt ist, erst einmal alle inneren Anteile zu hören. Sowohl die, die man mag, als auch die, die man nicht mag. Man muss verstehen, was die Teammitglieder eigentlich auf dem Herzen haben, was sie wollen, fürchten, ersehnen, für wichtig halten. Sie werden sich nicht immer einig sein, das ist ja die Ambivalenz. Für eine gute Entscheidung sind alle in einem Boot. Es  werden nicht immer alle inneren Anteile gleichermaßen zufrieden sein, das geht nicht. Aber gut wäre es, wenn alle zumindest sagen können: „Ok, damit kann ich leben.“ Die Teile, die sich nicht durchgesetzt haben, müssen gefragt werden, was sie bräuchten, um die Entscheidung gleichwohl mittragen zu können. Das geht durch Würdigung. Wie in einem Team. Gute Führung macht aus, dass man irgendwann entscheiden muss.

MG: Dazu muss ich ja auch sehr genau meine Bedürfnisse kennen. Wie lerne ich denn zu unterscheiden, was meine eigenen Bedürfnisse sind und was die Erwartungen anderer? Wie lerne ich, mich von Trends abzugrenzen und herauszufinden, was ich selbst will?

DK: Ganz geht das nicht. Wir sind immer auch Kinder unserer Zeit. Das merkt man am deutlichsten beim Blick ins Fotoalbum, wo man sich manchmal sehr wundern kann, was man vor 10 oder 15 Jahren allen Ernstes schick fand. Das gilt natürlich nicht nur für Mode, sondern auch für Haltungen, Ideen und teilweise für Werte. Trotzdem ist die Frage wichtig: Wenn man unterscheiden lernen möchten, was eigener Wille ist und was Erwartung von außen, dann geht es wirklich nur, indem man sich selber zuhört und darauf achtet, was zu einem passt, um sich dann – so banal es klingt – von den Erwartungen zu lösen. Der nächste Schritt ist es dann,  wirklich dem eigenen Ich zu folgen, auch wenn andere es seltsam, spießig oder langweilig finden könnten. Mit Blick auf das innere Team muss man sich fragen: Wer hätte es schwer, sich von den Vorstellungen anderer zu lösen? Und wieso? Was hat dieses Teammitglied auf dem Herzen? Unabhängigkeit fängt damit an, das zu tun, was man möchte, auch wenn es andere nicht verstehen, und einen Weg zu finden, mit sich selbst im Reinen zu sein.

MG: Das hört sich alles sehr gut an. Aber was geschieht im Falle eines Rückschlags? Was geschieht, wenn ich mein Team nicht hören kann und sich wieder der Entscheidungsdruck aufbaut?

DK: Jeder kann aus dem Gleichgewicht geraten. Niemand ist immer in Balance. Darauf sollte man vorbereitet sein. Und ich finde es auch völlig normal, sich dann wieder Unterstützung zu holen. Es ist nicht so, als dürfe man nur eine Therapie machen und dann nie wiederkommen. Man sollte vielmehr ein gutes Gefühl dafür entwickeln, wann der Punkt gekommen ist, an dem man Hilfe braucht.

Dagmar Kumbier: Das innere Team in der Psychotherapie, Klett-Cotta, 243 Seiten, ISBN: 978-3-608-89188-1

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Interview Miriam Galler

Illustration Daavid Mörtel