Zwischen Tattoos und Wüstensand
Alle reden über Inderinnen, aber nur wenige mit ihnen – jetzt wurde das Mikro weitergereicht und Platz für die Stimmen der indischen Frauen gemacht. Die Journalistinnen Anika Tietze und Britta Häfemeier porträtierten das Leben von fünf unterschiedlichen und vor allem außergewöhnlichen Inderinnen. Herausgekommen ist die Webdoku VOICE OF MOTHER INDIA. Die Motivation war vor allem, die Vorurteile gegenüber der Rolle der indischen Frau zu brechen.
Archana Nakhua Bhanushali lebt in Mumbai und ist eine außergewöhnliche Frau – nicht nur weil sie sich für eine Karriere als Tätowiererin entschieden hat oder weil sie international unglaublich viele Auszeichnungen für ihre Kunst gewinnt. Sondern viel mehr, weil sie das Leben lebt, das in Indien „the new normal“ genannt wird. Sie lebt ein Leben zwischen Tradition, Emanzipation und Moderne. Sie selbst beschreibt es so: „Ich kenne so viele Frauen in Indien, die so viel mehr Talent haben als ich. Aber sie sitzen zu Hause, warten auf ihren Ehemann und kochen ihm das Essen. Viele sind glücklich damit – ich aber nicht.“ Schon früh war ihr klar, dass sie eine Künstlerin werden würde, denn bereits als Kind malte sie immer und überall. Irgendwann fing ihr Vater an, die Bilder und Zeichnungen Familie und seinen Bekannten zu zeigen. Er beteuerte immer wieder, dass seine Tochter eine Künstlerin wird. Irgendwann glaubte auch Archana dran: „Mir wurde klar, dass ich etwas besonderes kann. Das berührte mich und gab mir den Schubs, den ich wahrscheinlich brauchte.”
Meera will ihren drei Kindern die beste Schulbildung ermöglichen
Über 1000 Kilometer nördlich von Mumbai, in einem kleinen Wüstendorf in Rajasthan, lebt die 39- Jährige Meera Khatri. Sie wohnt traditionell in dem Haus ihrer Schwiegereltern und arbeitet täglich ungefähr zwölf Stunden im Haushalt. Nebenbei betreibt sie noch einen kleinen Shop, in dem sie Chips, Kekse und Getränke an Schulkinder verkauft. „Nachdem gegenüber eine Schule eröffnete, habe ich einfach den Shop aufgemacht. Es ist zwar nicht viel – aber das Geld ist perfekt für meine Kinder und hilft beim Lernen.” Denn ihre Kinder leben in einem Schulheim in Jodhpur – der nächstgrößeren Stadt. Dort bekommen sie eine bessere Ausbildung als in ihrem Dorf und zum täglichen Pendeln wäre der Weg zu weit und zu gefährlich. Meera sieht ihre Kinder also nur in den Ferien, wenn sie ihre Mutter besuchen kommen können. Auch ihren Ehemann hat sie nicht täglich um sich, denn nachdem er in Rajasthan keine Arbeit gefunden hat, war er gezwungen in den 600 Kilometer entfernten Bundesstaat Gujarat zu ziehen, um dort Geld für die Familie zu verdienen. So verbringt Meera die meiste Zeit alleine mit ihren Schwiegereltern.
Archana gilt als beste Tätowiererin Indiens
Nach ihrem Studium der Angewandten Kunst wurde Archana auf die TLC Show “LA Ink” aufmerksam – denn dort tätowierte ihr Vorbild: die US-amerikanische Tattoo-Künstlerin Kat Von D. Archana ließ sich von ihr inspirieren: „Ich malte auf allem – Wände, Bücher oder Papier. Das einzige was ich nicht konnte war tätowieren. Da dachte ich mir, vielleicht sollte ich das einfach lernen.” Heute betreibt die 29-Jährige mit Ihrem Ehemann Nikhil zwei erfolgreiche “Ace Tattooz & Art”-Studios in der indischen Metropole. Das Ehepaar beschäftigt viele Angestellte und reist quer durch den Subkontinent und nimmt an Tattoo-Conventions teil. Archana hat sich einen großen Namen im Business gemacht und gilt als die beste Tätowiererin Indiens.
Von der Schülerin zur Lehrerin
Neben ihrer täglichen Arbeit im Haushalt unterrichtet Meera Kinder und andere Frauen – sie bringt ihnen Hindi und Englisch bei. Denn nicht alle Inder*innen beherrschen Hindi, besonders in den ländlichen Gegenden werden teilweise nur Dialekte oder andere Sprachen gesprochen. Die Nichtregierungsorganisation “Sambhali Trust” – hat es sich zur Aufgabe gemacht, das Leben von Mädchen und Frauen zu erleichtern. So war auch Meera bis vor einigen Jahren selbst eine Schülerin und lernte Englisch bei Freiwilligen aus dem Ausland. „Vor Sambhali war mein Leben sehr langweilig. Ich blieb zu Hause, hatte nur Hausarbeit zu erledigen und ich ging nie nach draußen. Nun ist es anders, ich fühle mich stark!” Zuerst lehnte ihre Familie es ab, dass sie eigenständig lernen und Geld verdienen möchte. Meera setzte sich aber durch und ist heute selbst ein starkes Vorbild für andere Frauen.
Beide Frauen stehen für eine ganze Bewegung in Indien
Auf den ersten Blick sind Archana und Meera so unterschiedlich, wie es nur sein kann. Die Eine ist in einer modernen Beziehung, arbeitet als Tätowiererin und lebt in der Megacity Mumbai. Die Andere wohnt in einem kleinen Dorf, verschleiert sich, wenn sie das Haus verlässt und holt Trinkwasser aus dem Brunnen. Eines haben sie jedoch gemeinsam: Beide Frauen sprengen ihre vermeintlich zugewiesene Rolle. Für viele Inderinnen ist es normal, dass sie Männer nicht in die Augen schauen oder ihnen die Hand zur Begrüßung geben. Archana hingegen tätowiert nackte Haut: „Für mich ist Haut wie Papier – dabei ist es egal, ob sie einer Frau oder einem Mann gehört. Ich kann dort meine Kunst verewigen.” Außerdem sei es ihr egal, was die Menschen über sie reden – nur weil sie Tätowiererin ist. Sie liebt ihren Job und arbeitet hart für ihren Erfolg.
Ihr ganzes Leben lang hat Meera das getan, was Männer ihr gesagt haben. Erst hörte sie auf ihren Vater und Bruder, später auf ihren Ehemann und Schwiegervater. Sie bekam Ärger, wenn sie ohne Begleitung das Haus verließ und durfte nicht arbeiten, weil die Leute denken könnten, ihr Mann würde nicht genug verdienen. Gegen alle diese Einschränkungen setzte sie sich durch. Heute geht sie alleine einkaufen, betreibt einen eigenen Shop und hilft anderen Frauen in ihrem Dorf selbstständiger zu werden. Beide Frauen stehen für eine ganze Bewegung im Land, denn viele Inder*innen wollen das indische Frauenbild und die Diskriminierungen nicht mehr hinnehmen. Nach der brutalen Gruppenvergewaltigung einer 23-Jährigen Studentin im Jahr 2012 gab es massenhafte Proteste in ganz Indien. Nach und nach organisierte sich der Widerstand – beispielsweise setzten sich indische Journalistinnen ein, dass die Identität von Überlebenden von Vergewaltigungen in der Medienberichterstattung geschützt werden müsste. Denn oft werden Frauen nach einer Vergewaltigung von der Gesellschaft ausgegrenzt und geschnitten. In der Silvesternacht 2016/17 wurden in Bangalore zahlreiche Frauen von Männergruppen sexuell belästigt. Die Reaktion der Öffentlichkeit und von Politiker*innen war erschreckend – Frauen sollten abends besser drinnen bleiben anstatt sich draußen rumzutreiben. Was folgte waren landesweite #IWillGoOut Märsche. Überall gingen Frauen auf die Straße, um zu zeigen, dass nicht ihre Gleichberechtigung oder Freiheit das Problem ist.
Auf VOICE OF MOTHER INDIA könnt ihr mehr über Archana und Meera erfahren. In der Webdoku erzählen sie und drei andere außergewöhnliche Frauen von ihrem Leben, der Vergangenheit und ihrem ganz persönlichen Alltag – in welchen Verhältnissen sie leben, welche Religionen sie ausüben und welche Ziele oder Träume sie haben. Drei Expert*innen werden die Themen sowie einzelne Situationen kommentieren und einen Einblick in die indische Gesellschaft geben.
Text: Britta Häfemeier Fotos: Voice of Mother India