Mehr Frau. Mehr Gerechtigkeit?
Ungerechtigkeit betrifft heutzutage noch immer in erster Linie Frauen: Armut, Gewalt und Analphabetismus betreffen Frauen stärker als Männer, da politische und ökonomische Macht sich mehrheitlich in männlichen Händen befinden. Selbst dort, wo rechtliche Gleichstellung verankert ist, findet weiterhin eine Ungleichbehandlung statt, wie etwa die Gender Pay Gap, also die Einkommenslücke zwischen Mann und Frau, zeigt.
Da dieser Missstand auf der einen Seite auf der Kluft zwischen Theorie und Praxis, sprich der Setzung und Umsetzung von Recht, fußt, ist gleichsam der Begriff der Gerechtigkeit Grund vorherrschender Ungleichheit. Wovon sprechen wir, wenn wir von Gerechtigkeit reden? Wer ist an dieser Unterhaltung beteiligt – und wer nicht? Denn in der politischen Theorie, dem Ort solcher Begriffsbestimmungen, geben – wie in den meisten politischen Ämtern – Männer den Ton an. So klafft eine eklatante Lücke zwischen Problem und Lösung. Die, welche unter Ungerechtigkeit leiden, kommen nicht zu Wort. Womit lässt sich diese Dominanz des einen Geschlechts erklären und, viel wichtiger, wie lässt sich dieser Widerspruch auflösen?
Die Werke, welche den Kanon der politischen Theorie bestimmen, stammen zumeist aus männlicher Feder – Hannah Arendt spielt hier erst seit kurzem eine prominente Ausnahmerolle. Fällt das Wort ‚Gerechtigkeit’, so obliegt die Definitionshoheit über den Begriff seit Platon über Aristoteles bis hin zu John Rawls zumeist dem einen Geschlecht. Doch dieser Umstand wird kaum thematisiert, geschweige denn reflektiert. Daher kreisen die meisten Ideen von Gerechtigkeit um abstrakte Begriffe wie Freiheit, Anerkennung oder Verteilung von Rechten. Weibliche Denkerinnen und feministische Kritik finden in diesen Debatten inzwischen ihren Platz in den Fußnoten, mehr aber nicht. Dabei ist es überaus problematisch, wenn Gerechtigkeit nur aus einer Perspektive gedacht und die Hälfte der Bevölkerung an diesem Prozess nicht beteiligt wird.
Gerechtigkeit im Sinne von Gleichheit zu denken mag aus männlicher Perspektive sinnvoll sein, jedoch birgt dies für Frauen die Gefahr, dass weibliche Differenz abgewertet wird. Daher ist es wichtig, dass mehr Frauen in der politischen Theorie Gehört verschafft wird: So hat die Theoretikerin Nancy Fraser den Begriff der halbierten Gerechtigkeit gewählt, um den Spagat zwischen einer Politik der Anerkennung und Forderungen nach Umverteilung zu schaffen. In einem Streitgespräch mit dem Philosophen Axel Honneth betont Fraser, warum die Umverteilung von ökonomischen Ressourcen eine zentrale Gerechtigkeitsfrage ist. Denn eben diese weist auf die Ursache von Geschlechterungerechtigkeiten hin. Eine Kritik auf Basis des gleichen Dilemmas zwischen Gleichheit und Unterschied formulierte die Philosophin Martha Nussbaum. In ihrem ‚Fähigkeitenansatz’ bezieht Nussbaum emotionale und soziale Bedürfnisse von Menschen, deren Gemeinsamkeiten statt Unterschiede sie betont, ein. Mithilfe ihrer Liste an zu erfüllenden Grundbedürfnissen, die beispielsweise körperliche Integrität und ökologische Verbundenheit umfassten, stellt sie konkrete Forderungen an Regierungen zur Sicherung eines Mindeststandards an Menschenwürde – für Männer und für Frauen.
Mehr Frau bedeutet mehr Gerechtigkeit, weil wir so ein umfassenderes Verständnis von Gerechtigkeit zeichnen können. Ganz praktisch lässt sich die Forderung nach mehr weiblicher Gerechtigkeit in eine steigende Beteiligung und Repräsentanz von Frauen in Regierungen übersetzen (Julia Korbik zum Thema Frauen in der Politik). Studien* zeigen, dass Frauen in Regierungen eine positive Auswirkung auf gemeinschaftlich bereitgestellte Güter sowie auf Kinderbetreuungsangebote haben. Der Befund, dass sich sowohl das Geschlecht von Regierungsmitgliedern als auch das Geschlecht ihrer Kinder positiv auf eine geschlechtersensible Gesetzgebung und Politikmaßnahmen auswirken, ist nicht neu, wird aber noch zu wenig beachtet.
Gerechtigkeit aus weiblicher Sicht zu denken bedeutet umfassender und praktischer zu denken: Das letzte Jahr wurde von vielen als Jahr des menstrualen Aktivismus ausgerufen, da nun auch ein letztes Tabu gelüftet wurde. Das mag auf den ersten Blick nicht viel mit Gerechtigkeit zu tun haben – auf den zweiten aber schon: Wenn jungen Frauen aufgrund gesellschaftlicher Traditionen und Konventionen der Schulbesuch während ihrer Menstruation untersagt wird oder sie schlichtweg keinen Zugang zu Hygieneartikeln haben, so muss die Debatte um die Umverteilung ökonomischer Ressourcen an einer anderen Stelle ansetzen und die kulturellen Barrieren brechen. Wie Fraser schon kritisierte: Gerechtigkeit ist unvollständig, wenn sie ohne Frauen gedacht wird. Deren Erfahrungswelt hingegen lädt dazu ein, diesen Begriff zu erweitern und zur Bekämpfung von Ungleichheit zu nutzen.
Text Kristina Kämpfer Foto privat
Kristina hat im Juni ihren Master in Women’s Studies mit Auszeichnung in Oxford, wo sie zu Frauen im Finanzsektor geforscht hat, abgeschlossen. Zuvor studierte sie in Berlin und Frankfurt Politikwissenschaft und Politische Theorie.
*Bratton, Kathleen A./ Ray, Leonard P., Descriptive Representation, Policy Outcomes, and Municipal Day-Care Coverage in Norway, 2002 und Chattopadhyay, Raghabendra/ Duflo, Esther, Women as Policy Makers: Evidence from a Randomized Policy Experiment in India, 2004.