KAPITEL
Fernanda Aufmacher

„Alle zu verlieren, das war meine größte Angst“

#transawarenessweek Bereits mit vier Jahren wusste sie, dass sie anders war als die anderen Kinder, dass sich etwas nicht stimmig anfühlte in ihr. Damals wuchs Fernanda in einem brasilianischen Dorf auf, verliebt in die Kleider der Cousine. Heute lebt Fernanda in Berlin. Ihr Äußeres hat sie ihrem Inneren angepasst. Das war ein langer und schwieriger Prozess und bleibt es teilweise bis heute.

Als ich Fernanda für dieses Interview treffe, sind wir zwei Fremde mit zwei Gläsern Chardonnay in einer Weinbar in Berlin Prenzlauer Berg. Wir wissen nichts voneinander, aber eine von uns hat zugesagt, der anderen alle möglichen Intimitäten von sich zu erzählen. Nach einer Stunde lachen wir viel, bestellen uns noch Sushi und beschließen, einmal miteinander tanzen zu gehen. So schnell kann das gehen.

Dass Fernanda so ein offener und zugänglicher Mensch ist, war nicht immer so. Lange Zeit lebte sie ziemlich isoliert, war verschlossen, ließ niemanden wirklich an sich heran. Das waren die Jahre, in denen Fernanda mit sich gerungen hat, 15 an der Zahl. Bis sie das eigene Versteckspiel irgendwann nicht mehr aushalten konnte. Bereits sehr früh weiß Fernanda, dass sie anders ist als andere Kinder. Sie fühlt sich in ihren Sachen nicht wohl, möchte lieber heimlich die Kleider ihrer Cousinen anziehen. Auch die anderen Kinder merken etwas, behandeln sie wie ein Mädchen, kokettieren mit ihr, wollen ihr nah sein, sie küssen. Beim Vater-Mutter-Kind-Spiel ist klar, wer die Rolle der Mutter übernehmen soll.

Im Alter von acht oder neun gesteht Fernanda sich ein, was los ist und sagt es leise zu sich selbst. »Ich bin ein Mädchen.« Andere dürfen es nicht erfahren. Weder Verwandte noch Freunde weiht sie ein. Abends liegt Fernanda schlaflos im Bett und wünscht sich, am nächsten Morgen als Mädchen aufzuwachen. »Aber natürlich hat das nie geklappt.«

Mit dem wohl gehüteten Geheimnis kommen Angst und Scham. Fernanda hat niemanden, der ihr sagen könnte, dass ihre Emotionen legitim sind. Sie hat kein Wort für das, was sie fühlt. An Informationen ist im brasilianischen Hinterland nicht ranzukommen. Heute gibt es Filme wie »The Danish Girl« oder Serien wie »Glee«, die Geschichten von trans Menschen erzählen und es für jüngere Betroffene deutlich einfacher machen, die eigenen Gefühle zuzuordnen. Durch das Internet hat man binnen Sekunden die Auskünfte, die man braucht. Aber für Fernanda ist die Ausgangslage anders, ihre Familie empfängt in den 80er und 90er Jahren nicht einmal Fernsehen.

Je älter Fernanda wird, desto mehr ringt sie mit sich. Dass sie nicht sie selbst sein kann, bestimmt ihr ganzes Leben. Sie fühlt sich unwohl in ihrem Körper, sieht sich nicht gern im Spiegel an. Hinzu kommt die Angst vor der Entdeckung. Fernanda zieht sich immer mehr zurück, lebt ziemlich isoliert, führt nur noch oberflächliche Freundschaften. Sie weiß, dass sie allen etwas vorspielt, dass sie täglich eine Lüge lebt. Schuld und Scham belasten sie zusätzlich. Fernanda hält dieses Leben nicht mehr aus. So kann es nicht weitergehen. Sie muss sich jemandem öffnen. Mit Anfang zwanzig kann sie sich überwinden, Hilfe bei einem Therapeuten zu suchen. Er ist der erste Mensch, dem gegenüber sie verbalisiert, dass sie eine Frau ist.

Für Fernanda steht viel auf dem Spiel. Sie fürchtet, dass sich ihre Eltern und Brüder von ihr abwenden. Außerdem ist sie zu diesem Zeitpunkt in einer Beziehung mit einer Frau, die sie liebt und der sie nun wehtun muss. Fernanda kann schlecht einschätzen, wie die Reaktionen ausfallen werden: »Das war meine größte Angst: Alle zu verlieren. Im Vergleich zu dieser Angst, war alles, was danach kam, einfacher.« Was hat sie schlussendlich dazu gebracht, diesen Schritt zu machen? – »Die Erkenntnis, dass es nicht anders werden würde«, sagt Fernanda, die lange gehofft hatte, die Gefühle würden vorbeigehen. »Und irgendwann hörst du die Uhr ticken und merkst, dass dein Leben ungenutzt an dir vorbeizieht. Es gibt keine Bremse und keinen Rückwärtsgang, es geht immer nur nach vorn. Ich merkte, ich musste etwas tun. Es gab keine Alternative, außer die, unglücklich und ein Feigling zu sein.« Kaum vorzustellen, wie ihr Leben wohl verlaufen wäre, hätte sie sich all das nicht eingestanden und später in Australien nicht den wichtigen Schritt zur Geschlechtsangleichung gemacht. Fernanda sagt, das war irgendwann keine Option mehr: »Es war eine Entscheidung zwischen Leben und Tod, denn mein Zustand hat mich langsam umgebracht.«

Dabei ist auch die Transition, also die körperliche Anpassung, ein langwieriger und aufreibender Prozess. Wie eine zweite Pubertät dauert sie Jahre, bis der Körper wirklich den eigenen Vorstellungen entspricht und mit dem Selbstbild d’accord geht. »Währenddessen kannst du dich nicht verstecken. Und deine Freunde und Familie können es auch nicht verdrängen. Physische Veränderungen geschehen und zwingen deine Gegenüber, auf dich zu reagieren und du auf sie. Das kann schwer sein und frustrierend.« So richtig ist die Transition wohl niemals abgeschlossen. Bis heute muss Fernanda Östrogen einnehmen, da ihr Körper ja keine eigenen weiblichen Hormone produziert. Aber das ist ein kleines Übel.

Manche der Sachen, die sie befürchtet hatte, sind eingetreten, andere glücklicherweise nicht: Fernanda und ihre damalige Freundin sind bis heute enge Vertraute, obwohl die Trennung natürlich unvermeidlich und schmerzhaft war. Auch ihre Familie erwies sich nach erstem Schock als großer Rückhalt. Im Gegenzug wandten sich allerdings manche Jugendfreunde von ihr ab und die Universität, an der sie angestellt war, entließ sie unter Angabe fadenscheiniger Gründe. Es gab ihr nichts vorzuwerfen, die Studierenden hatten sie als Frau sogar noch lieber, aber sie musste trotzdem gehen. Wenn Fernanda davon erzählt, wird ihre Stimme härter. Diskriminiert zu werden geht ihr nahe. Heute lebt Fernanda in der Blase Berlin, aus der sie von keiner direkten Diskriminierung berichten kann.

Das liegt aber auch daran, dass sie, obwohl sie die Anpassung erst vergleichsweise spät begonnen hat, nicht sofort als trans Frau ins Auge springt, wie sie selbst sagt. Ihre Figur war immer schon schlank und schmal, ihre Gesichtszüge fein. Andere trans Menschen, die sie kennt, hatten nicht so viel Glück. »Auf den Straßen oder in der U-Bahn tauche ich unter und werde gar nicht gesehen.« Fingerzeigen oder dumme Blicke kennt sie nicht. Abends beim Tanzen wird sie oft von Männern angesprochen, die sich dann zweimal wundern. Erstens, dass sie nicht auf Männer steht, wo sie doch so feminin ist, und zweitens, dass sie eine trans Frau ist.

Fernanda, für die der Tritt vor den Spiegel früher oft mit Qualen verbunden war, schaut sich heute gern an. Es ging für sie, die mir in Jeans und T-Shirt gegenüber sitzt, dabei nie um die Kleidung, nie um Drag. Sie trägt nicht etwa viel Make-up oder besonders püppchenhafte Sachen. »Ich wollte nie Barbie sein, ich will einfach nur eine normale Frau sein.« Ihr jetziger Körper entspricht so ziemlich den Vorstellungen, die sie sich früher gemacht hat. »Ich hätte gern eine weiblichere Hüfte, aber das ist ok. Alle meine Freundinnen haben etwas, was sie an ihrem Körper nicht mögen«, schmunzelt sie.

Die einzigen Vorurteile, die sie erlebt hat, kamen tatsächlich aus einer Ecke, aus der sie sie am wenigsten erwartet hätte: nämlich von homosexuellen Frauen. Wenn Fernanda, deren Begehen sich mit ihrer Geschlechtsangleichung nicht geändert hat, auf Frauenpartys geht, kommt es schon vor, dass sie sich von manchen Lesben anhören muss, sie sei keine echte Frau, geschweige denn eine vollwertige Lesbe. »Das verletzt mich«, sagt sie, »und vor allem verstehe ich es nicht. Wie kann man aus einer Minderheit heraus Verständnis für den eigenen Lebensstil einfordern, aber mich dann diskriminieren?« Recht hat sie. Eine trans Frau zu sein, die noch dazu auf Frauen steht, das ist wohl die schwierigste Kombination von allen.

Wenn man sie nach Frauendiskriminierung fragt, überlegt sie. Sie würde es nicht als Diskriminierung bezeichnen, aber sie merkt schon, dass ihr im Beruf als Frau anders begegnet wird, als früher als Mann. In ihrem Forschungsfeld gibt es nicht viele Frauen. Wenn die Wissenschaftlerin zu Konferenzen fährt, ist sie daher oft die einzige. Vor allem in Brasilien scheinen die Kolleg*innen dann nicht recht zu wissen, wie sie sich ihr gegenüber verhalten sollen. Vielleicht nehmen sie sie nicht mehr so ernst wie früher.

Trotz aller Widrigkeiten, ihren großen Schritt hat Fernanda dennoch nie bereut, denn er war alternativlos. Wenn man ihre Geschichte gehört hat, freut man sich gleich noch mehr, dass Fernanda heute so viel lachen kann, so offen ist. Ihr Verhältnis zur Welt hat sich durch die Anpassung geändert. Sie geht auf Menschen zu, hat mehr und tiefere Freundschaften. Sich anderen gegenüber öffnen zu können, ihnen Zuneigung entgegenbringen zu können, das hat auch viel mit Eigenliebe und Selbstakzeptanz zu tun. Die alte Weisheit stimmt: Man muss sich selbst lieben können, um andere lieben zu können.

Text: Mae Becker Fotos: Tina Linster

Dieser Text ist erstmals in LIBERTINE 03 #Courage erschienen. Alle bisherigen Printausgaben sind hier erhältlich.