KAPITEL
Frauenbewegung

Frauenbewegung: Von fliegenden Tomaten zum digitalen Aufschrei

Früher war alles besser? Unsinn! Vieles war aber anders. Um heutige Formen feministischer Kollektivität zu verstehen, müssen wir manchmal auch unseren Blick in die Vergangenheit richten. Die Soziologin Dr. Imke Schmincke sieht mit ihrer aktuellen Forschung zurück auf feministischen Protest der 1970er und 1980er Jahre und fragt sich zugleich, was sich seitdem verändert hat – vieles! Heute wie damals bleibt aber klar: Nur gemeinsam können wir gesellschaftlichen Wandel erreichen.

Was bleibt von den 68ern übrig? Wie funktioniert feministische Solidarität heutzutage und wie sieht feministischer Protest im digitalen Zeitalter aus? Fragen, die aktuell immer wieder in Feuilletons und Magazinen aufgeworfen werden. Eine Reise in die Vergangenheit könnte die nötigen Antworten liefern. Denn ein Rückblick auf die sogenannte zweite Welle des Feminismus der 1960er und 1970er Jahre verspricht ein besseres Verständnis aktueller Entwicklungen. Was heute passiert, wurde nicht unwesentlich von unseren Vorreiterinnen beeinflusst.

Das feministische „Wir“ im Wandel der Zeit

Genau an diesem Punkt setzt die Arbeit von Dr. Imke Schmincke an. Die akademische Rätin der Ludwigs-Maximilians-Universität in München lehrt und forscht im dortigen Institut für Soziologie am Lehrstuhl für Gender Studies. Bereits in früheren Veröffentlichungen benannte sie wichtige Meilensteine der zweiten Frauenbewegung. Mit ihrer derzeitigen Forschung betrachtet sie aktuelle feministische Entwicklungen mit Rückblick auf die feministische Situation der 1970er und 1980er Jahre, um mögliche Veränderungen in der Art feministischer Solidarisierung und politischer Forderungen analysieren zu können.

Zur Ergründung dieser Entwicklungen steht der Soziologin interessantes Datenmaterial zur Verfügung. Dazu gehört zum Beispiel die seit 1966 im 15-jährigen Turnus stattfindende bundesweite Umfrage des Hamburger Instituts für Sexualforschung zur Sexualität bei Studierenden. Schon die Erhebung des Jahres 1981 enthielt dabei die Frage nach der Bedeutung der Frauenbewegung für das Leben der Studentinnen. Diese Frage wurde auch in die Erhebung des Jahres 2012 integriert, um die Einstellungen der Studentinnen über den zeitlichen Verlauf hinweg vergleichen zu können. Zu sehen ist ein beachtenswerter Wertewandel, der sich über die Jahrzehnte vollzog. Die Studierendenschaft der frühen 1980er Jahre zeichnete sich durch ein ausgeprägtes kollektives Bewusstsein und die Ambition zu politischem Protest gegen ein patriarchales Geschlechterverhältnis aus. Dieses konnte, den Ansichten der Studierenden zufolge, nur durch ein gemeinsames Agieren durchbrochen werden. Die Student*innen von 2012 würdigten zwar den wichtigen Beitrag feministischer Bewegungen zu mehr Geschlechtergerechtigkeit, sahen aber dennoch mehr Potenzial in ihrer individuellen Entscheidungsautonomie und Handlungssouveränität. Weniger der Kampf gegen gesellschaftliche Strukturen und Ungleichheitsverhältnisse schien dieser jungen Generation ein besonderes Anliegen zu sein als das Erreichen persönlicher Lebensziele mit individuellen Mitteln.

Mit Tomaten gegen das Patriachat

Zurückblickend war die zweite Frauenbewegung nach Meinung von Dr. Imke Schmincke Ausdruck von sozialen Wandel und hat gleichzeitig auch selbst sozialen Wandel vorangetrieben. Ein Wandel, der mit einem kontinuierlichen Prozess weiblicher Selbstermächtigung einherging: Das aufgeladene Klima der 1960er und 1970er Jahre wurde von einer Reihe politischer Wendepunkte begleitet. Dazu gehörten die Ablösung der Großen Koalition durch eine sozialliberale Koalition, die Proteste gegen den Vietnam-Krieg und die schwarze Bürgerrechtsbewegung in Amerika. Auch in Deutschland formierten sich antikapitalistische studentische Protestbewegungen – die sogenannten Neuen sozialen Bewegungen. Viele Frauen, die Teil dieser Proteste waren, erkannten bald, dass in diesen Kämpfen kein Platz für ihre spezifischen Lebensrealitäten war. Selbst in der studentischen Opposition fanden sie sich in einer klassischen Männerdomäne wieder. Themen wie sexuelle Gewalt, auch innerhalb der Beziehung, die institutionalisierte Rolle der Frau als Hauptverantwortliche für Haushalt und Kindererziehung als auch die Marginalisierung von Frauen im öffentlichen Raum fanden keine Beachtung. Die populäre Rede der deutschen Filmemacherin Helke Sander auf der Delegiertenkonferenz des Sozialistischen Deutschen Studentenbundes (SDS) im Jahre 1968 kann daher als entscheidender Impuls für die autonome Selbstorganisation von Frauen gesehen werden. In dieser prangerte sie die ausbleibende Berücksichtigung des privaten Raumes an, in dem sich Frauen in einem besonderen Unterdrückungsverhältnis befänden – ein Desinteresse, das schwere Folgen nach sich ziehe. Denn Frauen hatten nicht nur mit rechtlichen Einschränkungen zu leben. Auch in ihren eigenen vier Wänden befanden sie sich vielfach in geschlechtshierarchischen Beziehungen, in denen dem Mann das letzte Wort vorbehalten war. Eine Tatsache, die in vielen Fällen auch zur Anwendung von (sexueller) Gewalt führte. Sander wies darauf hin, dass selbst die männlichen Mitglieder des SDS das spezielle Ausbeutungsverhältnis der Frauen im privaten Raum tabuisierten. Dieses Plädoyer blieb, wie zu erwarten, von dem ausschließlich männlich besetzten Gremium des SDS unkommentiert. Die Antwort auf diese Missachtung folgte postwendend: Die Studentin Sigrid Rüger, Teil des innerhalb des SDS neu gegründeten „Aktionsrates zur Befreiung der Frau“, bewarf den SDS-Theoretiker Hans-Jürgen Krahl wutentbrannt mit Tomaten. – Ein Zeichen, das der aufgezwungenen Sprachlosigkeit der SDS-Frauen ein für alle Mal ein Ende bereiten sollte.

„Das Private ist politisch“

Geworfene Tomaten und eine Frau, die die Courage hatte, sich öffentlich gegen ihre männlichen Mitstreiter zu äußern, bildeten den entscheidenden Anstoß für die Entstehung eines kollektiven Netzwerks. Zum zweiten Mal in der deutschen Geschichte entstand eine Frauenbewegung, nachdem zuvor Frauenrechtlerinnen des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts erbitterte Kämpfe um das Wahlrecht für Frauen geführt hatten. Mehr Autonomie im öffentlichen wie im privaten Leben, Selbstbestimmung über den eigenen Körper und die eigene Sexualität – dies waren die zentralen Anliegen, die nun über die Organisation von Protest, den kollektiven Austausch von persönlichen Unterdrückungserfahrungen in privaten Beziehungen und in gemeinsamen Projektgruppen zum Ausdruck kamen. Dr. Imke Schmincke hebt vor allem die besondere Bedeutung des Kampfes um den §218 StGB, das sogenannte Abtreibungsverbot, hervor – eine Zäsur, die Frauen aus den unterschiedlichsten Milieus zu Komplizinnen einer gemeinsamen Sache werden ließ und mit der Forderung des Rechts nach Selbstbestimmung über den eigenen Körper einherging. Laut Schmincke bildeten einschneidende Momente der Selbstermächtigung der Frauen die Erkenntnis, Probleme und negative Erlebnisse im Öffentlichen wie im Privaten nicht selbst verschuldet zu haben und nicht zu übertreiben, wenn man sexuelle Gewalterfahrungen als solche entlarvte. Vielmehr bildeten diese Unterdrückungserfahrungen einen allgemeinen Erfahrungshorizont, den die Frauen miteinander teilten. Die Quintessenz dieser Entwicklung wird mit der vielbedienten Parole „Das Private ist politisch“ auf den Punkt gebracht. Sowohl die ungerechte Aufteilung von Haushalts- und Betreuungsarbeit zwischen Männern und Frauen als auch die gewaltvollen Erfahrungen sollten nicht länger im Verborgenen bleiben. Es wurde deutlich, dass solche Erlebnisse unmittelbar mit den gesellschaftlichen Verhältnissen verbunden waren. Ein Erwachungsprozess, der mit der Motivation einherging, gemeinsam zu protestieren, aber auch dem Bedürfnis, sich gemeinsame Räume anzueignen, die frei von patriarchalen Machtstrukturen waren. Letztere entstanden tatsächlich und zwar nach basisdemokratischem Prinzip und autonomer Selbstorganisation. Dazu gehören zum Beispiel die heute immer noch bestehenden Frauenhäuser, Frauengesundheitszentren und sogar Frauenbuchläden.

©FrauenMediaTurm / Erika Sulzer-Kleinemeier

Der Feminismus oder die Feminismen?

Und wie gestaltet sich feministische Solidarität und Kollektivität nun heute? Der erste Hinweis lässt sich der Befragung des Instituts für Sexualforschung in Hamburg entnehmen – denn hier, so Imke Schmincke, steht 2012 – dreißig Jahre nach der Befragung von 1981 – eine sehr individualistisch denkende Studierendenschaft einer vormals kollektivbewussten, politikengagierten Gruppe von Student*innen entgegen. Rund vierzig Jahre nach der zweiten Welle des Feminismus hat sich vieles verändert – es ist keine Schande mehr, einer Vollzeiterwerbstätigkeit nachzugehen. Auch ist es möglich, eine Ehe ohne sexistische Schuldzuweisungen scheiden zu lassen oder sexuelle Gewalt in der Beziehung anzuzeigen. Dennoch existieren weiterhin genügend Gründe in feministischen Kollektiven zu partizipieren, denn Gesetze können sexistische, LGBTQI-feindliche und rassistische Denkstrukturen nicht auflösen. Feministische Kollektive existieren immer noch, auch werden weiterhin gesellschaftspolitische Entwicklungen mit einer feministischen Brille beurteilt und kritisiert. Die Form der feministischen Kollektivität hat sich jedoch verändert. Schminckes Einschätzungen zufolge lässt sich gegenwärtig eine Vervielfältigung feministischen Protests beobachten. Viele nebeneinander bestehende Feminismen treten an die Stelle einer zumindest von außen als weitestgehend einheitlich inszenierten Frauenbewegung. Queerfeminismus, Netzfeminismus, intersektionaler Feminismus und konservativer Feminismus – all das sind Bezeichnungen für feministische Denkrichtungen, die zum Teil sehr wenig gemein haben. So sehen Queerfeministinnen die Unterscheidung zwischen einem männlichen und weiblichen Geschlecht als eine soziale, menschengemachte Konstruktion an. Konservative Feministinnen beharren weiterhin auf eine klare Geschlechterdifferenz, die sich auch weiterhin in unterschiedlichem Rollenzuweisungen ausdrücken soll. Sie plädieren wiederum für gleiche Erwerbs- und Aufstiegschancen von Männern und Frauen. In der Diversifizierung feministischer Netzwerke drückt sich aber auch eine Kritik an den Fehlentwicklungen der zweiten Frauenbewegung aus. So wurde den Unterschieden, die sich innerhalb der weitreichenden Dimension „Frau“ ergaben, in der zweiten Welle des Feminismus zunächst nur wenig Beachtung geschenkt. Migrantinnen und/oder Frauen mit geringen Bildungsabschlüssen teilen nicht dieselben Erfahrungen mit deutschen Akademikerinnen. In vielen feministischen Zusammenhängen wird heutzutage versucht, einen derartig pauschalisierenden Feminismus zu vermeiden. So wird auf die ungerechte Verteilung von Ressourcen, die sich neben dem Geschlecht entlang von Identitätszuschreibungen wie Klasse, sexuelle Orientierung, Ethnizität und Geschlechtsidentität ergibt, hingewiesen und protestiert. Allerdings verweist Dr. Imke Schmincke auch auf die Gefahr, dass infolge der Ansammlung vieler nebeneinander existierender Feminismen feministischer Protest seine politische Stoßkraft verlieren könne. Forderungen, die von kleinen Kollektiven geäußert werden, haben eben nicht immer dieselbe Reichweite wie die groß angelegten Bewegungen. Individualisierungsprozesse, die im Zuge der europäischen Moderne ins Rollen gebracht wurden, verselbstständigen sich und bringen eine trügerische Individualisierungsideologie. So definiert Schmincke diese als: „Den Glauben daran, dass jede*r es zu etwas bringen kann, wir alle zusammenhangslos sind, es für alle soziale Aufstiegschancen gibt und man nicht mehr durch den sozialen Hintergrund begrenzt ist, in den man hineingeboren wird.“ Ein Glaube, der feministische Solidarität im Keim erstickt und die Lebensrealitäten eines Großteils der Frauen und auch Männer unserer Gesellschaft verfehlt. Dennoch hat sich die Möglichkeit, in feministischen Räumen zu partizipieren und eigene Gedanken und Forderungen öffentlich zu machen, mit dem Einzug neuer Kommunikationstechnologien radikal verbessert und demokratisiert.

Dies wird zum Beispiel an dem in Deutschland 2012 gestarteten #Aufschrei auf Twitter deutlich. Mit diesem wurde es Frauen möglich, alltagssexistische Erfahrungen zu teilen und damit ein totgeschwiegenes Thema publik zu machen. Aber auch internationale Aufrufe zu gemeinsamen Protestaktionen versinnbildlichen das hohe Mobilisierungspotenzial digitaler Mittel, wie es im Januar 2018 das Beispiel der weltweit organisierten Women’s Marches beispielslos zeigte.

Bildet (Teilzeit-)Banden!

Ist es besser eine überregionale, feministische Bewegung zu entwickeln, die eine hohe politische Reichweite und eine langfristige Stabilität aufweist, aber bewegungsinterne Statusunterschiede verleugnet? Oder ist nicht die Existenz vieler verschiedener Sorten von Feminismen wirkungsvoller, die den Lebensrealitäten ihrer Mitglieder besser gerecht werden? Eine abschließende Antwort auf diese Frage kann es nicht geben. Deutlich wird aber, dass heute wie damals feministischer Protest notwendig ist. Vielleicht bedarf es keiner langfristigen Kollektive, sondern eines Bewusstseins, im richtigen Moment zusammenzuhalten und füreinander einzustehen. Zu wissen, wann es darauf ankommt. Dafür müssen wir nicht immer selbst betroffen sein, sondern können in manchen Momenten auch nur aus Solidarität zu unseren Mitmenschen protestieren. Es geht nicht darum, sich auf eine fundamentalistische Identität zu berufen und dabei wiederum neue Ausgrenzungen zu produzieren, wie es so oft von rechtspopulistischen Bewegungen praktiziert wird. Die Arbeit in Kollektiven kann und muss manchmal anstrengend sein, nicht immer besteht Konsens und es kann nicht darum gehen, sich einander anzugleichen. Oft erscheinen die unterschiedlichen Lebenserfahrungen als unüberbrückbare Differenz, aber gerade durch diese Diversität der Stimmen entsteht ein mikroskopisches Abbild gesamtgesellschaftlicher Vielfalt. Mittels dieser Vielfalt wird es erst möglich, sich effektiv für mehr (sexuelle) Selbstbestimmung und Geschlechtergerechtigkeit einzusetzen wie auch entschieden gegen (Alltags-) und institutionalisierten Sexismus, Homophobie und Rassismus anzugehen.

Text Lena Spickermann Titelbild FrauenMediaTurm / Erika Sulzer-Kleinemeier