KAPITEL
SimoneHannah

Philosoph*innen wider Willen

Hannah Arendt und Simone de Beauvoir gehören heute zu den berühmtesten Philosoph*innen aller Zeiten – obgleich es beide, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen, nie sein wollten. Eins sind die Beiden zweifelsohne: zwei große Denkerinnen.

In Buchhandlungen muss man nicht lange nach ihr suchen: Ganz selbstverständlich findet sich Hannah Arendt in der Philosophie-Abteilung. Ihr Eichmann in Jerusalem steht dort friedlich vereint mit Vita activa und Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft (dank Trump und Co. neuerdings wieder populär). Simone de Beauvoir zu finden ist schwieriger. Zumindest, wenn es um ihren feministischen Klassiker Das andere Geschlecht geht. Der steht manchmal ein paar Regale unter Arendt – öfter aber im Regal mit sozialwissenschaftlicher Literatur oder solcher, in der es um irgendwas mit Frauen und Feminismus geht. Wo Arendt einen angestammten Platz in philosophischen Lexika und Enzyklopädien hat, da wird Beauvoir in vielen dieser Werke nicht aufgeführt – oder lediglich als Apostelin ihres Partners Jean-Paul Sartre. Ohne Frage waren sowohl Arendt als auch Beauvoir eigenständige Denkerinnen, die sich ihren Platz in Philosophie-Regalen und philosophischen Enzyklopädien verdient haben. Die beiden Frauen selbst jedoch waren mit dem ihnen zugewiesenen Platz gar nicht zufrieden. Warum?

Im Oktober 1964 ist Hannah Arendt Gast in der ZDF-Sendung Zur Person, moderiert von Günter Gaus. Der fragt sie nach ihrer „männlichen Beschäftigung“, der Philosophie: „Empfinden Sie Ihre Rolle im Kreis der Philosophen, trotz der Anerkennung und des Respekts, die man Ihnen zollt, als eine Besonderheit […]?“ Arendt lächelt amüsiert und antwortet mit ihrer typisch rauen Stimme: „Ja, ich fürchte, ich muss erst mal protestieren.“ Sie fühle sich „keineswegs“ als Philosophin, ihr Beruf sei die politische Theorie. Gaus protestiert tapfer: „Ich halte Sie für eine Philosophin.“ Nun, so Arendt, dagegen könne sie nichts machen, bleibe aber bei ihrer Meinung: Sie habe zwar Philosophie studiert, sich von dieser aber endgültig verabschiedet.

Fast zwanzig Jahre später, im September 1985, wird Simone de Beauvoir von der US-amerikanischen Philosophin und Wissenschaftlerin Margaret A. Simons zu Das andere Geschlecht interviewt. Simons merkt an, dass die philosophische Dimension des Buches in der ersten amerikanischen Übersetzung verschleiert und ausradiert wurde. Wie Beauvoir, die immer wieder betont habe, sie sei keine Philosophin, das denn fände? Beauvoir, stets präzise und direkt, erklärt: „Nun, ich denke, es ist sehr schlecht, den philosophischen Aspekt auszulassen, denn während ich zwar sage, dass ich keine Philosophin bin in dem Sinne, dass ich nicht Schöpfer eines Systems bin, bin ich dennoch eine Philosophin in dem Sinne, dass ich eine Menge Philosophie studiert habe, ich habe einen Abschluss in Philosophie, ich habe Philosophie unterrichtet, ich bin durchdrungen von Philosophie, und wenn ich Philosophie in meine Bücher hineinbringe, dann deshalb, weil es für mich ein Weg ist, die Welt zu sehen.“

Zwei Frauen, zwei Erklärungen. Die Interviews lassen ganz unterschiedliche Rückschlüsse darauf zu, warum Arendt und Beauvoir sich von der Bezeichnung ‚Philosophin’ distanzierten. In ihrer Ablehnung waren sie vereint – aber ebenso in ihrer anfänglichen großen Begeisterung für die Philosophie.

In ihren Memoiren notiert Simone de Beauvoir, Jahrgang 1908, was ihr als junge Frau an der Philosophie gefiel: „Es waren, nunmehr von ernsthaften Leuten behandelt, Probleme, die mich seit meiner Kindheit beschäftigt hatten und die ich nun hier wiederfand; auf einmal war die Welt der Erwachsenen nichts Selbstverständliches mehr, es gab eine Kehrseite, eine Unterseite, und Zweifel schlich sich ein; wenn man noch weiter vorstieß, was blieb dann?“ Die Philosophie, findet die junge Pariserin, stellt Fragen und gibt ihr das benötigte Werkzeug, um selbst Fragen zu stellen. In einer Zeitschrift entdeckt sie in den 1920ern einen Artikel über Léontine Zanta, die 1914 als erste Frau in Frankreich ihren Doktor in Philosophie machte. Zum ersten Mal sieht Simone de Beauvoir, dass so eine Art der Karriere für Frauen möglich ist. 1926 beginnt sie, gegen den Widerstand der Eltern, ihr Philosophiestudium an der Pariser Sorbonne – sie will Lehrerin werden, jungen Frauen das Selberdenken beibringen. Sie übersteht den Prüfungsmarathon und landet 1929 bei der mündlichen Prüfung in Philosophie hinter einem gewissen Jean-Paul Sartre auf dem zweiten Platz. Ein unglaublicher Erfolg, vor allem für eine Frau. Ein ehemaliger Kommilitone Beauvoirs, der Mitglieder des Prüfungsausschusses kannte, erinnerte sich später, man habe lange diskutiert, an wen der erste Platz gehen solle – alle seien sich einig gewesen, dass Simone de Beauvoir die „wahre Philosophin“ sei. Aber Sartre war im Vorjahr bereits durchgefallen und ein Mann, also entschied man(n) sich eben für ihn.

Beauvoir hat nur wenige philosophische Texte im engeren Sinne verfasst, darunter Für eine Moral der Doppelsinnigkeit. Tatsächlich aber ist ihr ganzes Werk von Philosophie durchzogen und geprägt: ihre Romane, ihre Memoiren, Das andere Geschlecht. Beauvoir trennt nicht zwischen Alltag, Literatur und Philosophie. Sie ist stets mehr daran interessiert, menschliches Leben und Dasein erfahrbar darzustellen, als abstrakte philosophische Abhandlungen zu schreiben. Oder, wie die Figur der Françoise es in Beauvoirs Roman Sie kam und blieb formuliert: „Aber für mich […] ist eben eine Idee nichts Theoretisches, man erlebt sie, oder sie bleibt Theorie, und dann zählt sie nicht […].“ Dieser sehr praktische, lebensnahe Zugang zur Philosophie ist vermutlich einer der Gründe dafür, warum Beauvoir sich selbst nie als klassische Philosophin sah. Philosoph*innen sind für sie originelle Denker*innen, Menschen, die eigene Denksysteme entwickeln. Ihr hingegen mangle es an „produktiver Phantasie“. Diese Tatsache hat Beauvoir nie als tragisch empfunden – ihre Leidenschaft war das Schreiben, die Tätigkeit als Philosophielehrerin nur ein Broterwerb. Denken fiel Beauvoir leicht, sie schlüpfte ohne Probleme in die Texte von Hegel und Nietzsche. Das Schreiben aber fiel ihr schwer, sie hat für eine Karriere als Schriftstellerin hart gekämpft.

Auch Hannah Arendt, 1906 in Linden (Hannover) geboren, entdeckt ihre Liebe zur Philosophie als Mädchen. Sie liest Kant, Jaspers und Kierkegaard. Dass sie einmal Philosophie studieren würde, steht seit ihrem 14. Lebensjahr fest. Wie die fast gleichaltrige Beauvoir hat Arendt das Bedürfnis, zu verstehen, den Dingen auf den Grund zu gehen – und ist davon überzeugt, dass die Philosophie ihr die gesuchten Antworten geben kann. Schon während ihrer Schulzeit gründet Arendt einen philosophischen Kreis. Ab 1924 studiert sie Philosophie in Marburg, ihre Professoren heißen Martin Heidegger und Nicolai Hartmann. 1926 wechselt Arendt auf Drängen ihres Liebhabers Heidegger den Studienort: In Freiburg studiert sie bei Edmund Husserl, in Heidelberg bei Karl Jaspers. Ende der 1920er, in Berlin, beginnt Arendt, sich zunehmend für politische Fragen zu interessieren. Sie liest Karl Marx und Leo Trotzki. Der Nationalsozialismus, vor dem die Jüdin Hannah Arendt 1933 zunächst nach Frankreich, später in die USA flieht, politisiert sie endgültig. Sie beschäftigt sich nun mit Themen wie Freiheit und Demokratie, setzt sich mit dem Judentum auseinander.

Das konkrete, praktische Handeln hat im beauvoirschen und arendtschen Werk einen hohen Stellenwert. Für Arendt ist es der Hauptgrund, ihre Arbeit im Bereich der politischen Theorie und nicht der Philosophie anzusiedeln. Denn zwischen Philosophie und Politik besteht ihr zufolge eine Spannung: „Nämlich zwischen dem Menschen, insofern er ein philosophierendes, und dem Menschen, insofern er ein handelndes Wesen ist […].“ Philosophie versus Handeln. Weil die Philosophie der Politik oft feindselig gegenüberstände, wolle sie, Arendt, die „Politik sehen mit, gewissermaßen, von der Philosophie ungetrübten Augen“. Für Arendt formt sich die Fähigkeit des Menschen zum Handeln durch die Sphäre des Politischen überhaupt erst aus. Ist Philosophie in Arendts Augen also apolitisch und deshalb für sie inakzeptabel? Es scheint so, doch eine klare Antwort bleibt Arendt schuldig. Generell wäre es zu einfach, Arendts Denken in schwarz und weiß, in Philosophie und Politik, in Passivität und Handeln, aufzuteilen. Es ist sehr viel ambivalenter und vielschichtiger als das: In Arendts Werk verbinden sich Zeitgeschichte und Philosophie, historische Erfahrungen und philosophische Konzepte. Das Historische, Politische und Philosophische ist miteinander verwoben. Arendts Texte sind, wie die Beauvoirs, von Philosophie durchdrungen, sie nutzt philosophische Analysemethoden, um diese auf ihren Untersuchungsgegenstand anzuwenden. Doch während Beauvoir sich – wenn auch anfangs zögernd – einer philosophischen Richtung, dem Existentialismus, zuordnete, verweigerte Arendt sich dem.

Genauso wie einer Diskussion darüber, welchen Platz Frauen in der Philosophie haben können – oder eher: dürfen. Schon Arthur Schopenhauer verkündete, Frauen seien zu „großen geistigen Arbeiten“ einfach nicht bestimmt. Kein Wunder, schallte es auch aus der Wissenschaft, Frauenhirne sind ja auch kleiner als Männerhirne! Weniger Volumen, weniger Denkvermögen. Die Philosophie war und ist ein männlich geprägtes Milieu, das empfinden auch Hannah Arendt und Simone de Beauvoir so. Doch Überlegungen zu ihrer Rolle als weibliche Intellektuelle scheint Arendt sich nie gemacht zu haben. Im Interview mit Günter Gaus erklärt sie: „Ich habe einfach gemacht, was ich gerne machen wollte“, weshalb „das Problem selber“ für sie nie eine Rolle gespielt habe. Beauvoir hingegen hat sich auch deshalb für die Literatur als Beruf entschieden, weil ihr als Frau „diese Gipfel“ zugänglicher erschienen als „einsame Hochebenen“ der Philosophie: Die „berühmtesten meiner Schwestern hatten sich in der Literatur hervorgetan“. Anders gesagt: In der Literatur hatte Beauvoir viele weibliche Vorbilder – in der Philosophie hingegen nur eines: Léontine Zanta.

Was am Ende bleibt, ist das: Zwei Frauen, die Philosophie dachten, schrieben, atmeten und lebten, die aber – aus verschiedenen Gründen – nicht darauf reduziert werden wollten. Weil die Bezeichnung ‚Philosophin’ nicht dem entsprach, was sie selbst mit ihrer Arbeit zu tun versuchten. Weil es nicht dem entsprach, wer sie sein wollten. Einen Platz im Philosophie-Regal haben beide verdient, trotz ihrer Proteste – aber auch einen im Regal für Politik und Zeitgeschehen, für Geschichte, vielleicht auch für Soziologie. Weil sie so grundlegend wichtige Denkerinnen waren. Philosophinnen, ja. Und so viel mehr.

Text Julia Korbik Illustration JIASCHA

Wenn du mehr über Simone de Beauvoir erfahren willst, empfehlen wir dir Julia Korbiks Buch Oh, Simone! Warum wir Beauvoir wieder entdecken sollten

Dieser Beitrag ist ursprünglich in der aktuellen LIBERTINE 08 #Identität erschienen, die du hier bestellen kannst.