Solidarität und Zusammenhalt statt Sabotage
Unsere Autorin Kristina Lunz hat in Bogotá bei der Menschenrechtsorganisation Sisma Mujer gearbeitet, viel über die Gefahren für Aktivist*innen erfahren und einiges gelernt, das auch den deutschen feministischen Bewegungen guttun würde.
Am 23. Dezember um 23 Uhr erhalte ich eine Nachricht von meiner ehemaligen Chefin. Sie leitet die Menschenrechtsorganisation Sisma Mujer in Bogotá. Sie will mir an diesem Abend keine besinnlichen Feiertage wünschen. Nein, ihre Nachricht informiert mich über neue Notfallmaßnahmen der kolumbianischen Regierung zum Schutz von Menschenrechtsaktivist*innen. Warum so etwas nötig ist, weiß ich seit meiner Zeit in dem südamerikanischen Land, wo ich als Mercator Fellow on International Affairs zur Beteiligung von Frauen am kolumbianischen Friedensprozess arbeitete.
Kolumbiens Held*innen
2016 war das Jahr, in dem die kolumbianische Regierung und die Rebell*innen der FARC – also die kolumbianische Guerillabewegung, die seit 1946 einen bewaffneten Kampf gegen den kolumbianischen Staat führte – endlich einen Friedensvertrag unterzeichneten. Nach über einem halben Jahrhundert bewaffneter Konflikte und langer Verhandlungen ist nun endlich offiziell Frieden in dem Land. Das bedeutet jedoch nicht automatisch ein Ende aller Gewalt. So war beispielsweise 2016 für Menschenrechtsaktivist*innen und Anführer*innen sozialer Bewegungen in Kolumbien besonders düster. Es wurden wohl so viele von ihnen ermordet wie schon seit sechs Jahren nicht mehr. Insgesamt fast 80. Für die Morde verurteilt wird kaum jemand. Straflosigkeit steht an der Tagesordnung.
Dieser dramatischen Zustände war ich mir nicht immer bewusst. Als ich mich beispielsweise Mitte Dezember, den Anweisungen meiner Chefin folgend, am Abend in einem schicken Hotel in Bogotá für ein Arbeitstreffen einfinde, bin ich zunächst überrascht: Vor dem Konferenzraum steht bewaffnetes Sicherheitspersonal. Im Raum befinden sich führende Frauenrechtlerinnen, unter ihnen Professorinnen, Juristinnen, Organisationsleiterinnen sowie Vertreterinnen der FARC. Sie haben sich hier zusammengefunden, um die Implementierung des Friedensvertrages und die darin enthaltenen Zugeständnisse an Frauen und andere gesellschaftlich unterdrückte Gruppen wie LGTBQI-Personen, Afrokolumbianer*innen oder die indigene Bevölkerung zu besprechen.
Es ist beeindruckend, was diese Frauen, die ich an jenem Abend kennenlernen durfte, erreicht haben. Es ist unter anderem ihrem unermüdlichen Einsatz zu verdanken, dass die FARC und die kolumbianische Regierung den wohl fortschrittlichsten Friedensvertrag der Welt unterschrieben haben. Denn der kolumbianische Friedensvertrag ist weltweit der erste, der die Geschlechterperspektive und die Rechte von Frauen sowie anderer historisch unterdrückter Gruppen derart prominent integriert. Es ist umso beeindruckender, wenn man bedenkt, wie misogyn und sexistisch die kolumbianische Gesellschaft ist, in der der Machismo regiert.
Machismo – das tägliche Leid
Bei Unterhaltungen mit kolumbianischen Frauen, sei es die alleinerziehende Kosmetikerin, die Uber-Fahrerin oder die befreundete Regierungsmitarbeiterin, wird schnell deutlich, dass Machismo und sexuelle Belästigungen sie in ihrem täglichen Leben einschränken. Tagsüber Straßen entlang zu laufen oder nachts im Club zu tanzen funktioniert meist nur für wenige Minuten ohne ungewollte sexualisierte Kommentare oder despektierliche Anmachen. Oft münden Belästigungen und Sexismus in physischer Gewalt. Laut Sisma Mujer wurden 2015 in Kolumbien alle 12,6 Minuten eine Frau Opfer von häuslicher Gewalt und alle 27,5 Minuten Opfer sexualisierter Gewalt wie Vergewaltigungen. Alle vier Tage tötet ein Mann seine (Ex-) Partnerin. 90% dieser Taten bleiben ungeahndet. Insgesamt werden jeden Tag 2,4 Frauen ermordet. Mädchen sind ebenfalls in erschreckendem Ausmaß betroffen: Täglich werden 21 von ihnen im Alter von zehn bis 14 Jahren vergewaltigt. Und das sind nur die offiziellen Zahlen. Die Morde sowie Vergewaltigungen geschehen meistens zu Hause und die Täter sind fast immer den Opfern bekannte Männer. Am stärksten betroffen sind Frauen auf dem Land, indigene Frauen und Afrokolumbianer*innen.
Obwohl die Ursache von Sexismus und Misogynie in allen Ländern der Welt dieselbe sei – nämlich eine historisch asymmetrische Verteilung von Macht – weise jedes Land Eigenheiten auf, so Claudia Mejía, Chefin von Sisma Mujer. „Der mehr als 50 Jahre andauernde Konflikt in Kolumbien hat die Misogynie und den Sexismus verstärkt“, fügt sie hinzu.
Kolumbien ist zugleich das Land mit den meisten Schönheitsoperationen weltweit, denn das Aussehen einer Frau ist ihr wichtigstes Kapital. „Die Operationen sind in gewisser Weise Ausdruck des herrschenden Machismo“ schrieb kürzlich die FAZ in einer ernüchternden Reportage über Schönheitsoperationen im Land. Catalina Ruiz-Navarro, eine der bekanntesten Feministinnen Lateinamerikas, schrieb: „In Kolumbien gibt es nur eine Sache, die für Frauen schlimmer ist als ein Sexobjekt zu sein – keines zu sein“. Die Misogynie zeigt sich also in den unterschiedlichsten Facetten, von der Objektifizierung bis zur physischen Gewalt.
Trotz dieser besonderen kulturellen Herausforderungen haben diese bemerkenswerten Frauenrechtler*innen viel zu einem derartig fortschrittlichen Friedensvertrag beigetragen: So ist es beispielsweise ihnen zu verdanken, dass es im Falle von sexualisierter Gewalt im Konflikt keine Amnestie geben wird.
Die größten Herausforderungen
Laut Mejía ist eine Gesellschaft, die sich immer stärker an konservativen Idealen orientiert, eine der größten Herausforderungen für den Feminismus. Dies gilt für Kolumbien, aber auch weltweit, denn konservative Werte gehen in der Praxis oft mit der Einschränkung von gewonnen Rechten für Frauen und die LGTBQI-Community einher. Aus diesem Grund, so Mejía, muss die Forderung nach der Umsetzung des Gender-Fokus im kolumbianischen Friedensvertrag nun oberste Priorität haben. Der Rechtsruck der Gesellschaft, der in Kolumbien stark von der Kirche ausgeht, trägt auch zur alarmierend hohen Gewaltbereitschaft gegenüber Frauenrechts- und LGTBQI-Aktivist*innen bei. Dabei hat das Verteufeln der ‚Gender-Ideologie’ durch die Kirche und die Rechten reale Auswirkungen auf die Sicherheit der Menschenrechtler*innen. Laut Mejía sei der effektivste Weg, dagegen vorzugehen, das Bilden von Allianzen. Und genau das tun sie und ihre Mitstreiterinnen an jenem Dezemberabend im Hotel.
Ein Lehrstück an Solidarität auch für Deutschland
„Auch wenn wir uns nicht in allen Dingen einig sind, müssen wir hier an einem Strang ziehen“, sagt eine der Frauenrechtler*innen, mit der ich an diesem Dezemberabend an einem Tisch sitze. Ich bin überwältigt vor Anerkennung für die Teilnehmerinnen. Gleichzeitig geht mir ein Artikel aus der ‚Zeit’ nicht aus dem Kopf, den ich kurz zuvor gelesen habe: „Feminismus – Viel Rauch um fast nichts“ von Elisabeth Raether. Ein Artikel, der anderen Untätigkeit vorwirft, während man sich beim Lesen die Frage stellt, welchen Beitrag die Autorin selbst leistet. Ein Artikel ohne konstruktive Kritik, jedoch voll von haltlosen Anschuldigungen. Es stellt sich mir die Frage, welchen Platz destruktive und unbegründete Kritik in diesem Diskurs haben soll, außer den politischen Wandel zu sabotieren. Und ich male mir aus, wie viel weiter wir im Kampf für Gleichberechtigung auch in Deutschland sein könnten, würden wir die Mentalität dieser beeindruckenden Frauen aus Kolumbien übernehmen. Wie sie sollten wir akzeptieren und respektieren, dass wir unterschiedliche, begründete Positionen zu verschiedenen Themen haben können und dürfen, jedoch gleichzeitig realisieren, dass wir alle für ein übergeordnetes gemeinsames Ziel kämpfen.
„We have far more in common than that which divides us“, sagte die im vergangenen Sommer ermordete britische Abgeordnete und Menschenrechtlerin Jo Cox. Ein Kontrastprogramm zu besagtem Artikel. Das Streben nach konstruktiver Kritik ist wichtig und treibt auch aktivistische Tätigkeit an. Doch nur Solidarität und Zusammenhalt können echte Veränderungen bewirken. Das haben uns die Frauen in Kolumbien, die unter diesen widrigen Umständen Unglaubliches erreicht haben, gezeigt.
Um in Kolumbien nun den genannten Herausforderungen begegnen zu können, muss umgehend der Schutz der Menschenrechtsaktivist*innen gewährleistet werden. Denn am Ende werden sie es sein, die für die effektive Umsetzung dieses fortschrittlichen Friedensvertrages unentbehrlich sind und somit eine gerechtere Gesellschaft ermöglichen werden.
Text und Fotos: Kristina Lunz