PLASTIC ANONYMOUS
#FemalesForFuture Francesca Miazzo will eine Sucht bekämpfen. Allerdings geht es ihr nicht um Alkohol, Drogen oder Glücksspiele – ihre Baustelle ist die kollektive Sucht nach Plastikkonsum, die unsere Gesellschaft seit langem befallen hat. Die junge Gründerin der Stiftung CITIES und der Initiative WASTED versucht das Problem an der Wurzel zu packen, indem sie die Bewohner ihrer Wahlheimat Amsterdam mit ihrem eigenen Plastikverbrauch konfrontiert, aufklärt und mit demselben lockt, was sie überhaupt erst zu Plastiksüchtigen macht: Geld.
Dass Plastik eines der größten globalen Umweltprobleme geworden ist, ist inzwischen angekommen – möchte man meinen. Überall liest man Artikel zu sterbenden Tieren und verschmutzten Stränden. Doch von der globalen Kunststoffjahresproduktion von rund 280 Millionen Tonnen werden immer noch lediglich 3% recycelt. Laut der urbanen Forscherin Francesca Miazzo muss man klein anfangen und die grundlegende Einstellung der Menschen zu Plastik zu ändern. Wie sie hierbei vorgeht, schildert sie im Gespräch über ihre Umweltinitiative WASTED, die Plastikindustrie und über die unangenehme Tatsache, dass Idealismus nun mal nicht am Kapitalismus vorbeikommt.
„Wir sind süchtig nach Plastik“, behauptet Francesca Miazzo felsenfest, „wir wissen es nur nicht.“ Die meisten Menschen reagieren zunächst ungläubig auf solche Äußerungen der Gründerin von CITIES Foundation – einer unabhängigen Forschungseinrichtung mit Schwerpunkt Stadtentwicklung. Süchtig nach Plastik? Wer mag Plastik überhaupt?
Dass die Welt in Kunststoff ertrinkt, ist allerdings schon im Bewusstsein angelangt. Doch fühlt sich kaum jemand selbst dafür verantwortlich. Schließlich denkt man bei Plastikverschmutzung in erster Linie an Kunstoffverpackungen und Wasserflaschen, welche inzwischen ja wirklich nicht mehr hipp sind. Die Menschen, die nun lieber Stoffbeutel zum Einkaufen nehmen und ihr Fastfood in Pappkartons packen, glauben, sie hätten ihren Beitrag geleistet. Doch eine simple Google-Suche lässt schnell erkennen, wo der Kunststoff noch überall lauert: Shampoo. Lippenstift. Zahnpasta. Was unser Grundwasser und Ozeane wirklich verseucht, ist Mikroplastik: Kunstoffteilchen im Nano-Bereich. Allein in Deutschland produzieren Kosmetika ca. 500 Tonnen Mikroplastik pro Jahr – bewusst hinzugefügt, denn es erzielt einen mechanischen Reinigungseffekt. In Gewässern entsteht Mikroplastik durch Versprödung von Kunststofftreibgut – Verpackungen, Bauteile, Möbel –, durch das Ultraviolett im Sonnenlicht sowie durch die mechanische Zerkleinerung in Wellenbewegungen. Im Zuge ihres Zerfallsprozesses entstehen zusehends kleinere Plastikpartikel, deren Abbau über hundert Jahre dauert. Eine aktuelle ernüchternde Analyse des Weltwirtschaftsforums hat geschätzt, dass bis 2050 die Plastikdichte in den Ozeanen mit der von Fischen gleichziehen wird. In Deutschland allein produziert jeder Mensch im Durchschnitt 618 Kilogramm Plastikabfall im Jahr. Und dieses Gift der Meere versteckt sich in Dingen, die wir als selbstverständlich betrachten und von denen wir zweifellos abhängig sind in unserem gedankenlosen Konsum.
It ain’t my fault
Francesca Miazzo wuchs in einem kleinen italienischen Dorf in der Nähe von Ancona auf. Und während sie dort zwischen Plastikabfällen am Strand spielte, entwickelte sich neben einer tiefen Liebe zur Natur auch eine tiefe Faszination für die fernen, chaotischen Städte Italiens, deren Wunder sie nicht mit dem ganzen Müll überall vereinbaren konnte. Dieses Paradox brachte sie schließlich nach Amsterdam, wo sie Stadtplanung studierte. Doch Francesca sieht die Wissenschaft kritisch. Sie liebte ihre Studien, doch erschien es ihr heuchlerisch, dass sie den Tag damit verbrachte „Essays zu schreiben und zu lesen – von Leuten, die ebenfalls den ganzen Tag nur Essays schreiben und lesen und nichts davon umsetzen.“ Von den großen urbanen Problemen der Welt wird sehr viel geredet in der Wissenschaft, doch es fehlt immer noch an Initiativen. Francesca Miazzo ist überzeugt, dass die Menschen immer gleich große Lösungen suchen, wo man im Kleinen anfangen muss. Sie und WASTED-Co-Gründerin Anna Hult, eine Kommilitonin aus Schweden, begannen also den Plastikverbrauch in ihrem Bezirk Noord zu analysieren und stellten fest: Die Leute produzierten erschreckend viel davon und trennten es selten – Voraussetzung, um in die Recycling plants von Amsterdam zu gelangen. Das ist nicht nur ein niederländisches Problem. Denn obwohl die Recyclingprogramme in der EU stetig steigen, geht viel wiederverwendbares Plastik verloren, da die Leute es in den Normalmüll werfen. „Das Grundproblem ist, dass die Leute Plastik als Müll sehen, den man loswerden muss. Wir wollten Ihnen klarmachen, wie wiederverwertbar das Material ist und wie viel Schaden es anrichtet, wenn man genau das nicht tut.“ Und sie wollten wissen: Wieso trennen Leute ihren Müll nicht, wenn sie täglich Bilder der Plastikverschmutzung vor sich haben? Statt aufwendige Umfragen anonym durchzuführen, beschlossen sie, eben ihre Nachbarn zu fragen, ohne große intellektuelle Diskussionen oder Vorwürfe.
„Wir haben einfach an die Türen von Leuten geklopft und gefragt: ‚Warum trennt ihr euren Müll nicht?‘ Die häufigste Antwort: ‚Warum sollte ich den Job der Regierung machen?‘ Wir fragten weiter: ‚Wenn ihr etwas dafür kriegen würdet, würdet ihr es tun?‘ Die einstimmige Antwort: ‚Ja.‘“
„Wir haben uns an einen Lebensstandard, der Shampoo, Zahnpasta und neuverpackte Kopfhörer als selbstverständlich ansieht, gewöhnt – wenn es ein Problem damit gibt, ist es die Schuld der Regierung. Kaum jemand würde Kopfhörer gebraucht kaufen oder eben Zahnpasta. Denn auch wenn es uns nicht bewusst ist, Plastik impliziert: neu, frisch, hygienisch. Die Technologie, um Plastik zur recyceln, ist bereits seit 30 Jahren da, es fehlt nur an den Lieferanten“, berichtet Francesca.
Doch sie prangert die Plastiksünder nicht an. Im Gegenteil: Sie kritisiert Umweltschützer, die mit der Schuldkeule schwingen: „Idealisten wollen immer an den Idealismus von Menschen appellieren. Aber so ändert man nicht das Bewusstsein der breiten Masse, die nicht idealistisch ist. Und es hat nie einen Drogensüchtigen geheilt, dass man ihn des Drogenmissbrauchs anklagt.“ Was könnte man den Leuten also als Anreiz geben, ihren Plastikmüll nicht nur zu trennen, sondern auch weniger davon zu produzieren?
Incentivising – erst Geschäft, dann Idealismus
Die Antwort ist weder inspirierend noch taugt sie für Slogans, doch sie ist mächtig: Geld. Nachdem sie und Anna Hult die Nachbarn abgeklappert hatten, zog Francesca von Händler zu Händler von nachhaltigen Waren und Unternehmen in Noord und fragte, ob sie interessiert wären, ihrer Gemeinschaft zu helfen, weniger Plastik zu produzieren. Sie war selbst überrascht, wie viele begeistert zusagten. So entstand 2015 die Initiative WASTED – die im Grunde ihres Herzens ein Belohnungssystem ist. Haushalte, die Mitglieder bei WASTED sind, bekommen spezielle Säcke, in denen sie ihr Plastik sammeln; diese geben sie an WASTED ab und bekommen für jeden vollen Beutel eine Münze (digital oder aus Plastik), für die sie bei einem Netzwerk von lokalen WASTED-Händlern Rabatte und Aktionen bekommen – während ihr Plastikmüll in Recyclingwerke kommt. Typische Belohnungen sind ein Rabatt von 50% auf Fahrradreparaturen oder ein Discount auf Yoga-Unterricht. 1000 Haushalte und Dutzende von lokalen Unternehmen nehmen inzwischen an dem Schema teil.
WASTED hat sich bewährt: Bisher wurden 13.380 Kilo
Plastik von den WASTED-Nachbarn recycelt.
Noch dazu kaufen die WASTED-Mitglieder in ihrer lokalen community ein und
lernen sie besser kennen. Und das Geheimnis des Erfolgs? Francesca Miazzo ist
überzeugt: Incentivising. „Man muss die Leute an ihrem Geschäftssinn packen –
der Idealismus wird dann bei vielen durch die Konfrontation geweckt.“
Schließlich geben auch die Händler bei WASTED ihre Rabatte nicht nur für ein gutes Wort und Umweltschutz; die Discounts schaffen Stammkunden, die wiederum neue Kunden mitbringen. Wenn man zu einem Kuchen in einem Café immer auch einen Tee dazu bekommt, wird man schließlich gerne wieder in dieses Café zurückkehren.
Anfängliche Sorge war es, dass dieses System Leute geradezu ermutigen würde, Plastikmüll zu produzieren, denn: desto mehr volle Beutel, desto mehr Münzen. Doch als CITIES 2016 – ein Jahr nach Beginn von WASTED – eine Umfrage startete und die Zahlen ihrer Mitglieder analysierte, stellten sie fest: 70% der Beteiligten produzierten nun weniger Kunststoffabfall. Francesca glaubt, dass die Leute durch das isolierte Sammeln erst bemerken, wie viel Plastik sie konsumieren, und dass es sie abschreckt. Sie brauchen wohl nur einen monetären Schubs in die richtige Richtung.
Plastic Anonymus
Aber das Reward-System ist nicht alles, was WASTED anbietet. Um das Potenzial von Plastik zu demonstrieren, betreiben sie ein pedalbetriebenes WASTED-Laboratorium, um zu zeigen, wie man Kunststoffabfälle in vielseitige Bausteine verwandeln kann, um Strukturen wie Bänke oder Marktstände zu schaffen.
Mit dem Laboratorium veranstalted WASTED auch Workshops an Schulen und Universitäten. Diese sind in drei Teile geteilt: Plastic Anonymus, Plastik-Geschichte und Plastik in Anwendung. Den Schülern wird gezeigt, wie viel Plastik sie konsumieren, woher es kommt, wie man die Typen durchs bloße Auge unterscheidet und schließlich wie man es recyceln kann.
Der Name Plastic Anonymus kommt nicht nur von Suchtbehandlung. Mit einem etwas bitteren Lächeln erzählt Francesca, wie schwer es ist, Gelder für ihre Stiftung zu bekommen, und wie die Regierung und andere Umweltschützer sie anfänglich nicht ernst nahmen. „Auch die Recyclingwirtschaft ist eine Männerdomäne. Bis wir Gelder von Amsterdams Stadtverwaltung bekamen, gab es bereits drei andere von Männern gegründete Initiativen, die unser Modell nachahmen, ohne uns Credits zu geben.“ Sie möchte diese anderen Initiativen nicht nennen und betont, dass natürlich jeder Beitrag gut für die Gemeinschaft sei.
Innovative Stadtplanung ist die Zukunft
Francesca Miazzo ist überzeugt, dass das generelle Bewusstsein von Menschen für Umweltverschmutzung und Plastik steigt, aber dass sie oft immer noch nicht weit genug denken. „Jeder umweltfreundliche urbane Mitzwanziger will den neusten Kombucha-Shop eröffnen – und denkt dabei an alles, außer an Verpackung und Transport.“
Denn lokaler Transport ist oft umweltschädlicher und ineffizienter als Massentransport übers Meer, da kleinere Mengen in aufwendigeren Wegen zum Kunden kommen. Das ist ein anderes Projekt von CITIES: FOODLOGICA, ein kleines Unternehmen von E-Bikes, mit denen Händler, meist im WASTED-System, ihre Waren nun anstatt von Vans transportieren. Francesca hofft basierend auf ihrer wissenschaftlichen Arbeit, dass sie die Luftverschmutzung von Amsterdams Bezirk Noord damit um 7% senken kann. Doch auch für die Erweiterung dieses Projekts fehlen noch Gelder. Umweltschutz ist ein Showgeschäft wie jedes andere auch.
Vergleicht man WASTED mit einem anderen Plastikprojekt der Niederlande, The OceanCleanUp, fällt auf, dass der junge Gründer Boyan Slat innerhalb kürzester Zeit Millionen für sein Unternehmen durch Crowdfunding bekam. Sein Ziel: eine Art Plastiknetz im Ozean, das Plastikabfälle daran hindern soll, die Küsten zu erreichen. Francesca erklärt sich als Fan von jeder Initiative zur Vermeidung von Plastikmüll; auch von dieser. Doch es ist auffallend, dass gerade Boyans Projekt, das den Menschen sozusagen die Verantwortung abnehmen möchte, solche Spenden zusammen bekam.
CITIES möchte weiter lokal arbeiten und hofft das Netzwerk von Händlern und Haushalten über die Jahre über ganz Amsterdam auszubreiten. Ziel ist es unter anderem einen Dialog in der Plastikindustrie der Niederlande zu starten, um das Problem an der Wurzel zu packen. Denn nicht jeder Plastiktyp ist wiederverwendbar, und natürlich sind gerade diese Typen oft nicht die günstigste Variante. Am 22. Mai veröffentlichte CITIES ihr erstes Buch „The Wasted City“, in dem ein neues Stadtplanungsmodell für eine nachhaltige Kreislaufwirtschaft vorgestellt wird.
„Der generelle Denkprozess in Europa zur nachhaltigen Kreislaufwirtschaft und Umweltschutz ist großartig“, meint Miazzo. „Die Technologien sind da. Man muss eben nur den Zweiflern und Gierigen klarmachen, dass sie auch Geld machen können, ohne immer gleich alles wegzuwerfen und neu zu machen.“
Bei CITIES kann man sich als Freiwillige*r engagieren. Mehr zu der Stiftung und Francesca Miazzos Arbeit unter: citiesthemagazine.com
Text: Roxane Llanque Fotos: Geertje Hampe-Nijland
Dieser Beitrag ist erstmals in LIBERTINE 05 #Kollektiv erschienen.