KAPITEL
Disko Cut

Auf Identitätssuche in der Arktis

Selbst gebaute rosa Bühnen inmitten von Eisbergen, schwere Musikinstrumente auf kantigen Felsen – das Disko Arts Festival hat einen ungewöhnlichen Ort zu seiner Spielwiese erklärt: die namensgebende Diskobucht auf Grönland. Doch nicht nur die Location macht das Kunstspektakel, das dieses Jahr erstmals stattfand, zu einem besonderen Event.

Über 250 Besucher*innen von nah und fern pilgerten auf Schiffen oder per 5- bis 7-stündigen Fußmarsch Anfang August zur Oqaatsut, einem kleinen Dorf mit rund 30 Einwohnern an der grönländischen Westküste – gespannt, was sie erwarten würde. Vier Tage Kultur unter dem Motto „Utopian Desire“ vor eisiger Naturkulisse; das hatte es bisher noch nicht gegeben. Zumal es um sehr viel mehr gehen sollte als um Theater und Musik: Individualität und Identitätssuche, das sind die großen Schlagwörter, die dem Contemporary Art Festival zugrunde liegen. So war und ist es Ziel der Initiatorin und künstlerischen Leiterin, Arnbjörg María Danielsen, an diesem nördlichen Zipfel der Welt, kreative Grenzen zu sprengen und Künstler*innen zusammenzubringen, die sich sonst nie begegnen würden. „Es war faszinierend zu sehen, wie die unterschiedlichen Künstler*innen zusammenfanden und ganz neue Synergien entstanden“, berichtet die Isländerin.
Der 37-Jährigen ist es wichtig, insbesondere jungen Kreativen aus Grönland die Möglichkeit zu geben, Kunst frei von der Prägung durch den dänischen Kolonialismus zu schaffen und dem Reichtum der eigenen Kulturtradition Raum zu geben – ganz ohne Zensur. Entsprechend viele Einheimische waren unter den 36 Mitwirkenden – darunter Fotograf*innen, Visual- und Food-

© Saga Sig

© Saga Sig

Artists, Musiker*innen, Bildende Künstler*innen sowie Schauspieler*innen. So auch die Trommeltänzerin Varna, die sich als Teil des 2013 von Arnbjörg gegründeten Netzwerks Far North in ihrer Kunst mit Fragen nach Identitätsbildung und Traditionswahrung der Inuit auseinandersetzt. Als Nachfahrin berühmter grönländischer Trommeltänzer ist es ihr ein Anliegen, das kulturelle Gut dieser Ausdrucksform zu hüten und vor allem weiterzuentwickeln.
Die weiteste Anreise und einen ganz anderen Background mit gleichzeitig ähnlichen Ambitionen hatte der nigerianische Tänzer Qudus Onikeku (Aufmacherbild), der sich thematisch mit dem „zeitgenössischen Afrika“ beschäftigt. In seinen Performances lässt er die Ästhetik, aber auch die Identitätssuche des Kontinents einfließen.
Seit über zehn Jahren zählt der 33-Jährige zu den wichtigsten Akteuren der nigerianischen Choreographen-Szene und verbindet die traditionelle Philosophie der Yoruba – einem Volk im Südwesten Nigerias, wo Qudus aufgewachsen ist – mit anderen Einflüssen aus Hip Hop, Capoeira, Tai Chi und zeitgenössischem Tanz.
Zurück zu den Wurzeln zu finden, Traditionen und Natur in die eigene Kunst einzubringen, das ist auch der Ansatz der grönländischen Komponistin Arnannguaq Gerstrøm, die beispielsweise das Heulen der Huskies in ihre Musik integriert. Für Initiatorin Arnbjörg kann es keinen anderen Ort für das Festival geben: „Auf Grönland ist es im Sommer immer hell – Tag und Nacht. Die Zeitlosigkeit, die dadurch entsteht, ermöglicht es, loszulassen, mit dem eigenen Rhythmus zu gehen und ganz bei sich, seinem Körper und Gedanken zu sein. Das setzt viel kreatives Potential frei.“

Auch wenn dem Publikum sehr viel mehr abverlangt wird als der bequeme Gang zum nächsten Theater, lohnt sich die abenteuerliche Anreise. Wer weiß, vielleicht werden im nächsten Jahr auch einige Europäer den Weg zur Diskobucht finden – glasklare Luft, eine gigantische Naturkulisse und dazu noch ein außergewöhnliches Kulturprogramm: Wann und wo sonst auf der Welt ist das zu finden.

© Anders Berthelsen

© Anders Berthelsen

Nach einer erfolgreichen Uraufführung von „Sounds of Inuicity“ bei PACT Zollverein im Rahmen der diesjährigen Ruhrtriennale geben einige der grönländischen Künstler*innen zusammen mit ihren nigerianischen Kolleg*innen einen Einblick in ihre Arbeit und stellen auf Kampnagel das neue, von Arnbjörg und Qudus gemeinsam entwickeltes Projekt „All The Days Of Our Lives“ vor.

Im Anschluss an die Performance diskutieren die Künstler*innen zum Festival-Auftakt über ihren Arbeitsprozess, über Machthierarchien des globalen Kunstmarktes, Virtuosität als Form und die scheinbar (un)auflösbaren Grenzen zwischen Süd und Nord. Moderiert wird die Diskussion von Matthias Mohr, Dramaturg und Kurator bei PACT Zollverein in Essen und dem norwegischen Theaterwissenschaftler Knut Ove Arntzen.

 

All The Days Of Our Lives
08. Dezember, 20 Uhr [K2], anschließendes Gespräch: 21 Uhr [Foyer] 11. November, 18.30 Uhr
Kampnagel, Kampnagel Internationale Kulturfabrik GmbH, Jarrestraße 20, 22303 Hamburg
Das komplette NORDWIND Festival Programm @ Kampnagel findet ihr hier.

Text: Juliane Rump Foto (Aufmacher): Jonas Ersland